Freitag, 14. September 2012

Die Philosophie der Voluntaristen

von Oliver Heuler


Was ist ein Voluntarist?

Ein Voluntarist will auf initiierende Gewalt und Zwang verzichten. Das klingt selbstverständlich. Wer wäre schon für Zwang und Gewalt? Jeder lehnt Dinge wie seelische Kindesmisshandlungen, Sklaverei, Raub und Erpressung ab, könnte man meinen.
Der Voluntarist möchte jedoch, dass Erwachsene nicht nur bei privaten und geschäftlichen Begegnungen mit Anderen auf Gewalt verzichten - der Voluntarist möchte, dass die gleichen Regeln auch in der Familie und der Gesellschaft gelten.
Inwiefern herrschen denn in der Familie und der Gesellschaft Gewalt?
Initiierende Gewalt und Zwang sind die Grundlagen der Erziehung und der Politik. »Gewalt« rührt von dem althochdeutschen Verb »waltan« her, was so viel bedeutet wie »beherrschen«. Von Gewalt kann man also sprechen, wenn ein Einzelner oder eine Gruppe über andere herrscht und Gebote wie Verbote erlassen werden - so wie in der Erziehung oder der Politik. Schreiben Eltern dem Kind vor, dass es den Tisch zu decken hat oder wann es ins Bett gehen muss, ist das eine Form von Gewalt; wenn der Staat den Bürger zwingt, Steuern zu zahlen, auch wenn der das nicht möchte, ist das eine Form von Gewalt.
Aber da liegen doch keine bösen Absichten zugrunde? Nutzen Eltern und Politiker ihre Macht nicht zum Besten der Kinder und Bürger?
Der Voluntarist unterstellt allen die besten Absichten: Eltern, Politikern und auch Wählern, also denen, die die Politiker scheinbar legitimieren. Alle haben das Kindes- oder Allgemeinwohl im Auge. Sicher mag es Ausnahmen geben, aber das sind eben Ausnahmen. Die Zwangs- und Gewaltbefürworter haben Angst, dass Kinder ohne gewisse Zwangsmaßnahmen verwahrlosen und sich nicht zu reifen Menschen entwickeln. Ebenso haben sie Angst, dass die Menschen ohne das Gewaltmonopol des Staates zu noch größeren Gewaltopfern würden, weil dann auf Straßen Mord und Totschlag herrschen würde. Steuern und freiheitsbeschneidende Gesetze seien da doch das geringere Übel. Die Zwangsbefürworter befürchten überdies, dass es ohne einen umverteilenden Staat zu extremen Reichtumskonzentrationen käme und »einfache Menschen« dann verarmen oder ausgebeutet würden.
Was gibt es denn daran auszusetzen, dass man armen Menschen helfen will?
Gar nichts, so lange man es mit seinem eigenen Geld tut oder andere ohne Drohungen davon überzeugt, sich freiwillig zu beteiligen. Womit ich Schwierigkeiten habe, ist das Umverteilen mit der Pistole oder - um es freundlicher auszudrücken - »Tue Gutes auf Kosten anderer«. Auch wenn es den meisten nicht bewusst sein mag, implizit steht dahinter der Gedanke: »Wirklich edle Zwecke heiligen auch ethisch fragwürdige Mittel.«
Verzicht auf Gewalt hört sich ja schön friedlich an, aber was tut ein Voluntarist, wenn er beispielsweise überfallen wird?
Wenn man sich gegen einen Angriff verteidigen will, ist eine verteidigende Anwendung von Gewalt gerechtfertigt. Man muss zwischen initiierender und verteidigender Gewalt unterscheiden. Initiierende Gewalt hält der Voluntarist nie für gerechtfertigt. Das gewaltfreie Prinzip der Voluntaristen lautet also:
"Menschen können tun und lassen, was sie wollen, solange sie das Leben anderer Leute, deren Freiheit und Eigentum nicht verletzen."
Oder als Gebot formuliert: Du darfst niemanden verletzen, mit Drohungen zu etwas zwingen oder berauben.
Sind Voluntaristen auch gegen einen demokratischen gewählten Staat?
Jede Art des Staates - auch ein demokratisch gewählter - setzt sich über das Prinzip der Freiwilligkeit hinweg und nutzt systematisch initiierende Gewalt und Zwangsmittel gegen Bürger, die unschuldig sind, also nicht ihrerseits Gewalt initiiert haben. Alle Staaten zwingen den Bewohnern des jeweiligen Landes mit Waffengewalt Produkte und Dienstleistungen auf. Der Staat verspricht, seine Bürger mittels Polizei und Armee zu beschützen, und dafür müssen die Bürger Steuern bezahlen, ob sie diese Dienstleistung wollen oder nicht. Sollte jemand die unverlangten Dienstleistungen nicht bezahlen, wird man ihm sein Geld mit Gewalt abnehmen und ihn in einem Gefängnis zusätzlich seiner Freiheit berauben. Wenn man sich gegen die Festnahme wehrt, werden die Staatsvertreter sogar Waffen einsetzen.
Voluntaristen möchten, dass für alle die gleichen Gesetze gelten und nicht andere für Träger von Uniformen. Wenn ein einzelner Bürger das tun würde, was die Staatsvertreter machen, würde man das räuberische Erpressung, Nötigung oder Freiheitsberaubung nennen:

> Räuberische Erpressung
»Räuberische Erpressung« laut Wikipedia:
»Die Abgrenzung zum Raub ergibt sich nach der Auffassung der Rechtsprechung dadurch, dass beim Raub das Wegnehmen im Vordergrund steht, während sich der Täter der räuberischen Erpressung die Beute vom eingeschüchterten Opfer übergeben lässt.«
Hier also: Zahle Steuern und Sozialabgaben in der Höhe, die wir für richtig halten, oder wir schicken dir bewaffnete Damen und Herren vorbei, die dich mitnehmen, einsperren und die bei deinem Widerstand »auch von der Schusswaffe Gebrauch machen« (das wäre bei umgekehrten Rollen dann übrigens der Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung).

> Nötigung
»Nötigung« laut Wikipedia: »Wer einen Menschen mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt.«
Hier also: Wehrpflicht, Zivildienst und Schulpflicht

> Freiheitsberaubung
Hier: Gefängnis bei opferlosen Verbrechen wie Drogengebrauch, Glücksspiel, Wehr- und Ersatzdienstverweigerung, unter Volljährigen einvernehmliche Prostitution, Schulschwänzen und Weigerung gegen Schutzgeldzahlungen, also Schmuggeln, Schwarzarbeit und Steuerverweigerung. 

Aber wir haben uns doch in freien Wahlen darauf geeinigt, dass jeder seinen Teil zum Gemeinwohl beitragen muss. 
In einer Demokratie kann ich lediglich mitbestimmen, wer mir Gewalt antun darf, und ich habe einen winzigen Einfluss darauf, was mit dem erbeuteten Geld geschieht. Freiheit ist etwas anderes: Frei wäre ich, wenn ich vorher gefragt würde, ob ich an dem Projekt »Demokratie und Sozialstaat« teilnehmen möchte. Und natürlich müsste ein »nein« erlaubt sein. Allein durch die Tatsache, dass ich bei der Wahl meines Oberhauptes teilnehmen darf, verdient das derzeitige System noch lange nicht das Prädikat »freiheitlich«.
Nehmen wir an, ich bekäme in meinem Geschäft Besuch von der Mafia und die würden mir ein Angebot machen, das ich auch nicht ablehnen könnte: die regelmäßige Zahlung von Schutzgeld, dessen Höhe sich prozentual an meinen Einnahmen bemisst. Deren Angebot würde moralisch nicht auf einmal unbedenklich, wenn ich als Gegenleistung bei der nächsten Wahl des Mafiabosses teilnehmen dürfte. Das Mafia-Angebot würde ebenso wenig moralisch, wenn die Mafia einen Teil des erbeuteten Geldes der Wohlfahrt spenden würde. Übrigens fließt auch bei der Mafia ein Teil der Einnahmen in einen Fonds, der den betroffenen Familien zugute kommt, wenn ein Mafiosi ins Gefängnis kommt oder erschossen wird.
Wer mit der Politik unzufrieden ist, kann doch selbst Politiker werden und sich wählen lassen.
Wenn ich meine Metapher noch einmal bemühen darf: Ich glaube nicht, dass sich die von Schutzgeld-Erpressungen geplagten Mafia-Opfer besser fühlen, wenn man sie auf die Möglichkeit hinweist, dass man auch die Mafia infiltrieren, dort die Kontrolle übernehmen und sie dann moralisch bekehren kann.
Akzeptieren Voluntaristen nicht unser demokratisches System, indem sie weiter in Deutschland leben? Niemand hindert sie, das Land zu verlassen.
Wenn das Argument moralisch stimmig wäre, dürfte ich dann nicht auch von all meinen Nachbarn Schutzgeld erpressen und argumentieren, dass sie der Schutzgelderpressung zustimmen, weil sie schließlich nicht wegziehen?
Außerdem gilt: Selbst wenn ich mein eigenes Grundstück nie verlassen und völlig autarker Selbstversorger würde, bliebe ich ein Opfer von Nötigung und räuberischer Erpressung des Staates.
Die meisten Voluntaristen nutzen aber doch Errungenschaften des Staates wie zum Beispiel Straßen?
Dazu auch eine Gegenfrage: Verliert ein Sklave das moralische Recht, Sklaverei anzuprangern, wenn er von seinem Sklavenhalter ein Essen bekommen und es gegessen hat?
Es fällt einem sehr schwer, jemandem unvoreingenommen zu begegnen, der gegen unsere Demokratie argumentiert.
In unserer Geschichte gab es furchtbare Diktaturen und deshalb empfinden wir die Demokratie zurecht als Fortschritt. Wir fühlen uns zu lebenslanger Dankbarkeit verpflichtet und bekommen sofort Schuldgefühle, wenn wir demokratie-feindliche Gedanken hegen. Das Wort »demokratisch« ist zu einem Synonym geworden für Begriffe wie: »menschlich«, »freiheitlich« und »sozial«. Demokratie-kritisches erweckt dementsprechend sofort Assoziationen von Unmenschlichkeit, Unsicherheit und Ungerechtigkeit. Bei aller erlaubten Kritik an unserem derzeitigen System drehen sich die Gedanken deshalb immer im Kreis: Wir fragen lediglich, was die gerechteste Staatsform ist, wie wir die Demokratie verbessern können und welche Art der Politik am besten ist; auf die Idee, dass Staat, Demokratie und Politik das eigentliche Problem sind, kommen wir nicht. Wir haben gelernt zu glauben, dass Macht einfach nur auf viele Personen verteilt werden muss. In der Monarchie konzentriert sich die Macht auf einen, und wenn die Macht auf viele verteilt wird, so wie es in der Demokratie zu sein scheint, dann liegen wir richtig, so denken wir. Die Frage, warum überhaupt Macht sein muss, wird fast nie gestellt.
Wobei es natürlich nicht darum geht, wieder zu einer Monarchie zurückzukehren, sondern über die Demokratie hinauszuwachsen. Wenn wir in eine Krise geraten, erklären wir sie damit, dass eben die falschen Politiker an der Macht sind. Wir halten es für völlig normal, dass unsere Regierung Rechte besitzt, die wir einem Einzelnen nie einräumen würden. Sie darf entscheiden, was von unserem Eigentum wir behalten dürfen und was nicht, welche Handlungen uns erlaubt sind, zu welchen wir verpflichtet und welche verboten sind, und die Regierung entscheidet, welche Art von Buße wir tun müssen, wenn wir gegen ihre willkürlichen Regeln verstoßen haben. Da wir in freien Wahlen über all das gleichsam mitentschieden haben, betrachten wir alle Entscheidungen und Handlungen der Regierung als Entscheidungen und Handlungen von uns selbst an uns selbst. Das ist jedoch aus mehreren Gründen nicht richtig.

Zunächst wählt nur ein Teil der Menschen. Bei der Bundestagswahl 2002 beispielsweise waren von 82 Millionen Deutschen nur etwas mehr als 61 Millionen wahlberechtigt. Gewählt haben etwa 49 Millionen Deutsche, und 23 Millionen Stimmen haben der Regierungskoalition gereicht, zusammen die absolute Mehrheit zu erzielen. Die Repräsentanten von 28 Prozent der Menschen haben also in Deutschland das Sagen. Pech hat, wer nicht wählen darf, wem keine der Parteien wählbar erscheint, wer für die Verlierer gestimmt hat und wer noch nicht geboren ist, aber später sicher unter der jetzigen Politik leiden wird, weil er zum Beispiel schon als Säugling hoffnungslos verschuldet ist. Oft wird gesagt, die Demokratie sei eigentlich eine Diktatur der Mehrheit; eine akkuratere Beschreibung der Demokratie wäre allerdings: »Diktatur einer Minderheit«.

Selbst die 28 Prozent der Deutschen, die für die Regierung gestimmt haben, regieren sich natürlich nicht wirklich selbst. Sie haben für eine Partei gestimmt und nicht für einzelne Gesetze. Einmal gewählt, kann der Volksvertreter prinzipiell entscheiden, wie er will. Wie verkommen unsere Demokratie in Deutschland tatsächlich ist, hat der Professor für öffentliches Recht und Verfassungslehre Hans H. von Arnim in seinem Buch »Das System. Die Machenschaften der Macht« eindrucksvoll beschrieben. Ein Großteil der Macht liegt außerdem in den Händen Hunderttausender ernannter und nicht gewählter Bürokraten, denen der Volkswille ziemlich egal sein kann. Inzwischen sind das auch meist nicht einmal mehr Landsleute, sondern europäische Bürokraten, die auch nie demokratisch gewählt wurden.

Wenn wir die ersten beiden Punkte einmal außer acht lassen, bleibt immer noch das Problem, dass sich Demokratie moralisch nicht rechtfertigen lässt. Wenn ein einzelner Mensch nicht das Recht hat, einem anderen seinen Willen aufzuzwingen, dann ändert sich dieses Grundrecht auch nicht, wenn 1000 Menschen sich zusammenschließen, um den einen zu etwas zu nötigen, was er selbst nicht will. Ein kleines Gedankenexperiment zeigt, wo das moralische Problem der Demokratie liegt:

Stellen wir uns vor, ein kleines Flugzeug mit drei Personen stürzt auf einer einsamen Insel ab. Die Insassen überleben den Absturz und es waren glücklicherweise Vorräte für vier Wochen an Bord, die den Absturz auch unbeschadet überstanden haben. Da kein Notruf abgegeben werden konnte, ist nicht klar, ob und wann Rettung kommen wird. Die Meinungen zur Vorgehensweise gehen auseinander: Der Pilot will sich nicht auf eine Rettung von außen verlassen und plädiert dafür, gleich tätig zu werden, eine Hütte zu bauen, Wasser zu suchen, Fallen aufzustellen und sich autark zu machen. Die beiden anderen sind der Meinung, dass die Vorräte auf jeden Fall reichen bis Rettung eintrifft oder ein Schiff vorbeikommt. Man geht getrennte Wege. Die beiden legen sich zum Sonnen an den Strand und genießen den Urlaub mit Baden und Müßiggang. Der Pilot schuftet acht Stunden pro Tag und macht sich unabhängig.
Nach drei Wochen ist noch immer keine Rettung in Sicht und die beiden Müßiggänger werden unruhig. Wenn wir direkte Gewalt einmal ausschließen, haben sie jetzt zwei Möglichkeiten:
1. Die beiden haben einen gewissen Arbeitsrückstand zum Piloten, bis sie Unabhängigkeit von den mitgebrachten Vorräten erreichen. Diesen Rückstand könnten sie dadurch ausgleichen, dass sie in der verbleibenden Woche nicht acht Stunden am Tag arbeiten, sondern sechzehn. Wenn die beiden dem Piloten gegenüber zugäben, sich geirrt zu haben und um Tipps bäten, was es beim Werkzeug-, Hütten- und Fallenbau zu beachten gibt, würde sich dieser sicher kooperativ zeigen. Vielleicht würde er ihnen auch Werkzeuge und im Notfall auch Nahrung ausleihen.
2. Die andere Möglichkeit der beiden besteht darin, auf der Insel Demokratie auszurufen. Sie hätten zusammen die absolute Mehrheit und könnten durch Sozialgesetzgebung eine Umverteilung von der besitzenden Klasse zur bedürftigen Klasse herbeiführen. Diese Art des Zuammenlebens könnte sich sogar nachhaltig aufrecht erhalten lassen, wenn man den Piloten weiter bei Laune hielte. Dazu müsste man ihm zugestehen, nach Abzug seines Solidarbeitrages immer noch mehr zu besitzen als die Sozialhilfe-Empfänger.
Auch wenn sich die zweite Variante (Demokratie) aus der Sicht des Piloten wie Raub und Sklaverei darstellen würde — es ginge alles rechtmäßig und demokratisch zu. In diesem Beispiel wird deutlich, dass positives Recht, also durch Rechtsetzung von Menschen gemachtes Recht, nicht unbedingt etwas mit Gerechtigkeit zu tun haben muss. Das wissen wir spätestens seit der Nazi-Zeit, in der sich die damaligen Politiker, Richter und Offiziere auch damit rechtfertigten, nur nach geltendem Recht gehandelt zu haben. Dem positiven Recht steht das überpositive Recht gegenüber, das auch »Naturrecht« oder »Vernunftrecht« genannt wird. Dieses Recht beruht auf der Überzeugung, dass jeder Mensch von Natur aus — und nicht durch Konvention — unveräußerliche Rechte hat. Diese Rechte sind unabhängig von Geschlecht, Alter, Ort, Zeit, Staatszugehörigkeit oder der Staatsform, in der man lebt. Man kann diese Rechte am besten mit dem Recht auf Selbsteigentum zusammenfassen. Selbsteigentum bedeutet, dass über den Körper und die Lebensweise einer Person allein diese selbst zu bestimmen hat. Einschränkungen sind nur aus Notwehr statthaft. Daraus ergibt sich auch, dass die Freiheit eines Menschen seine Grenze in der Freiheit der anderen hat. An diesem Selbsteigentum darf sich auch nichts ändern, wenn sich eine Gruppe zusammenschließt. Bei der Beurteilung eines Lynchmobs wird kaum jemand gegen den ethischen Imperativ des Selbsteigentums protestieren. Nur wenn die Gruppe sehr groß wird und deren Repräsentanten sich »Staat« nennen, werfen die meisten auf einmal ihre moralischen Prinzipien über Bord und wollen nichts mehr davon wissen, dass niemand über den einzelnen Menschen bestimmen darf, weil der Mensch sich selbst gehört.
Neben den ethischen Erwägungen gibt es aber auch praktische (utilitaristische): Man versetze sich bei dem Inselbeispiel einmal in die Lage des Piloten und versuche nachzuempfinden, wie sich dessen Lust auf freiwillige Solidarität entwickeln wird, nachdem er gezwungen wurde, den Müßiggang der anderen Flugzeuginsassen zu subventionieren. Man vergleiche das mit seiner Motivation im ersten Fall, bei dem die beiden anderen nichts mit Gesetzesgewalt eingefordert, sondern um Hilfe gebeten haben.
Durch die erzwungene Solidarität wird die freiwillige Solidarität sinken. Die Empfänger der erzwungenen Sozialleistungen werden unselbstständig und abhängig. Das wiederum lässt sie irgendwann jedes Selbstwertgefühl verlieren, was sich nur einstellt, wenn man selbst Probleme löst. Es ist nur eine Frage der Zeit bis sich aggressive Langeweile breit macht. Selbst wenn diese »Hilfsbedürftigen« auf ein Leben ohne Arbeit blicken, kann man leicht sehen, dass man ihnen eigentlich einen Bärendienst erwiesen hat.
Dabei bleibt völlig unbenommen, dass es in jeder Gesellschaft tatsächlich Hilfsbedürftige gibt, und die Menschlichkeit gebietet es uns, denen Hilfe zuteil werden zu lassen. Allerdings muss diese Hilfe nicht erzwungen werden. Die freiwilligen Helfer sind dann auch sehr gut in der Lage, zu beurteilen, ob und in welchem Umfang Hilfe nötig ist.
Ok, ich verstehe jetzt die voluntaristische Argumentation. Aber was wäre die Alternative zu unserem jetzigen System?
Voluntaristen haben kein Gesellschaftssystem im Kopf, das irgendwie herbeigeführt werden soll. Das wäre wieder nur mit Zwang möglich, und von dem gilt es sich ja gerade zu befreien. Man kann nicht mit Zwang Freiheit herbeiführen. Genauso wenig kann man Gewalttätige mit Gewalt bekehren. Und man kann auch nicht politisch werden, um Politik abzuschaffen.
Eine freie Gesellschaft ergibt sich von alleine, wenn eine kritische Menge der Menschen Zwang und Gewalt in jedem Fall ablehnt, auch wenn die Gewalt angeblich einem höheren Zweck dient. Es geht nicht um das Ziel, sondern um die Mittel. Wenn man sich immer auf moralische Mittel beschränkt, wie sollte dabei etwas Unmoralisches herauskommen? Unmoralische Mittel hingegen verfehlen fast zwangsläufig ihre moralischen Ziele.
Ein Beispiel: In Deutschland bemühen sich die Bildungspolitiker seit den 60er Jahren um nichts mehr als um Chancengleichheit. Das Ergebnis: In keinem Land hat ein Kind aus den unteren Schichten so schlechte Aufstiegschancen wie in Deutschland (Stern.de: Das Märchen von der Chancengleichheit von Walter Wüllenweber).
Eine eindrucksvolle Dokumentation der Überlegenheit von privaten gegenüber staatlichen Schulen, findet sich in diesem Bericht:
> The Failures of State Schooling in Developing Countries (PDF)
Würden bei einem Verzicht auf die Schulpflicht nicht manche Kinder Zuhause ungebildet verkümmern, weil deren Eltern sich überhaupt nicht für die Entwicklung ihrer Kinder interessieren?
Selbst wenn man in einigen Fällen nachweisen könnte, dass manche Kinder von einer Schulpflicht profitieren, kann das keine Pflicht rechtfertigen. Wo wäre die Grenze? Ist körperliche Nahrung nicht noch viel wichtiger als geistige Nahrung? Bei falscher Ernährung werden manche Kinder krank. Es könnte also Fälle geben, in denen manche Kinder von einer zentralen Essenspflicht profitieren würden. Eine Essenspflicht würde auch die Chancengleichheit verbessern. Es wäre ja ungerecht, wenn die Vorteile einer ausgewogenen, gesunden Ernährung nur den Kindern reicher Eltern zuteil würden.


Genau wie bei der Bildungspflicht, wüsste man bei einer Essenspflicht nicht, was die Konsequenzen wären. Vielleicht verlören auch hier Viele die Lust am Essen und bekämen Essensstörungen, die man dann HDD (hunger deficit disorder) nennen und medikamentös behandeln würde. Die Soziologen nennen das »law of unintended consequences«, das Gesetz der unbeabsichtigten Wirkungen, für das unzählige Beispiele gibt, in denen nach gut gemeinten Regierungsinterventionen am Ende genau das Gegenteil dessen passiert ist, was man erreichen wollte.
Wie würde es denn in der Praxis aussehen, wenn man sich nicht mehr an den Zielen, sondern den Mitteln orientierte?
Genau kann das keiner sagen. Eine voluntaristische Ordnung wäre für alles offen. Wenn zum Beispiel immer noch ganz viele Menschen ein Bedürfnis nach Demokratie hätten, dann könnten die sich zusammenschließen und gemeinsam vereinbaren, dass sie sich einen oder mehrere Führer wählen und dass diese Führer dann Regeln aufstellen können, nach denen sich die anderen zu richten haben. Der wichtigste Unterschied wäre allerdings: Für die, die sich nicht freiwillig der Demokratie-Gruppe angeschlossen haben, gelten die Regeln nicht.
Es könnte sich auch eine Kommunismus-Gruppe bilden, die vereinbart, dass alle in der Gruppe auf privates Eigentum verzichten. Das bestehende Vermögen sowie die laufenden Einnahmen in Form von Löhnen und Gehältern würden dem Kollektiv übertragen. Das Kollektiv würde dann Wohnraum, Nahrung und alle anderen Dinge zur Verfügung stellen, die fürs Leben gebraucht werden. Ich habe meine Zweifel, ob das eine sehr befriedigende und effektive Art des Zusammenlebens ist, aber wer das möchte und Leute zum Mitmachen findet, soll es haben — solange er es nicht anderen oktroyiert.
Denkbar ist natürlich auch eine Monarchie-Gruppe. Wer sich der anschließt, unterwirft sich einem König, der dann irgendwann durch seinen Sohn ersetzt wird und so weiter.
Das sind wohl eher Ausnahmefälle. Was würde wohl die Mehrheit der Menschen für eine Lebensform wählen?
Die meisten Menschen würden ziemlich sicher die Freiheit bevorzugen. Ich vermute, wenn der Staat heute seine Zwangs-Mitgliedschaft in eine freiwillige Mitgliedschaft umwandeln würde, dass dann fast alle austräten und keine Mitgliedsgebühr in Höhe der Hälfte ihres Einkommens mehr zahlen würden. Das Preis-Leistungs-Verhältnis der Produkte, die uns der Staat zu kaufen zwingt, ist einfach unbefriedigend. Unser Gesundheits-, Renten-, Rechts-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Bildungssystem erfüllt unsere Bedürfnisse nach Sicherheit und Bildung nur ungenügend und zu teuer. Es gibt keine Leistung, die privat nicht besser und billiger angeboten werden könnte. In Geschäftszweigen, in denen Staaten ihr Monopol aufgeben, kann man sehen, dass die Preise sich im Mittel halbieren und die Qualität sich verdoppelt. Das liegt einfach daran, dass jedem Anbieter, der ein garantiertes Monopol besitzt, der Antrieb fehlt, ständig die Preise zu senken und die Produkte zu verbessern. Auf einem freien Markt sorgen die Kunden für diese Motivation; die wandern ohne Monopol einfach ab, und zwar zu einem anderen Anbieter mit einem besseren Preis-Leistungs-Verhältnis. Beim Staat kommt noch hinzu, dass die Manager, sprich Politiker, nicht ihr eigenes Geld ausgeben, und fremdes Geld gibt sich zu einfach aus.
Wer kümmert sich um die Bedürftigen, wenn es keinen Staat mehr gibt?
Das ist der häufigste Einwand gegen eine freie Gesellschaft: »Was passiert, wenn ich Solidarität nicht mehr erzwinge?« Zunächst einmal: Zwang funktioniert hier nicht. Niemand kann Menschen zur Solidarität zwingen. In dem Moment, da jemand zu sozialem Verhalten gezwungen oder erpresst wird, ist sein Verhalten nicht mehr sozial. Schiller hat diese Erkenntnis in folgenden Satz gepackt: 
Friedrich Schiller:
»Zur moralischen Schönheit der Handlung ist Freiheit des Willens die erste Bedingung, und diese Freiheit ist dahin, sobald man moralische Tugend durch gesetzliche Strafen erzwingen will.«
 Genauso wenig kann ich mein Kind unter Strafe zwingen, gute Laune zu haben. Das wäre der sicherste Weg, ein dauerhaft missgelaunt und unfreundliches Kind zu bekommen. Sicher, Zwang kann kurzfristig funktionieren; wenn ich die Belohnung oder die Bedrohung hoch genug schraube, erziele ich Gehorsam. Aber zu welchem Preis? Und die Motivation hinter der gewünschten Handlung habe ich ohnehin nicht unter Kontrolle.
Empirische Daten bestätigen diese fast triviale Vermutung: In Ländern mit traditionsgemäß geringerer staatlicher Wohlfahrt ist das freiwillige Engagement für die Wohlfahrt deutlich ausgeprägter. Amerika ist immer noch ein gutes Beispiel, obwohl die Staatsquote dort inzwischen auch schon auf 40 Prozent angestiegen ist (Deutschland: über 50%).
Wenn ich etwas moralisch Gutes erzwinge, mache ich damit also eigentlich etwas kaputt. Jeder hat das schon zig mal an sich selbst erlebt: Es gab eine Tätigkeit, die man eigentlich gerne gemacht hat, und man verlor den Spaß an dem Tag, an dem die Tätigkeit zur Pflicht wurde, weil man zum Beispiel glaubte, damit Geld verdienen zu müssen.
Die Hoffnung ist also, dass ohne Staat die gleiche Solidarleistung wie heute erbracht würde?
Das weiß natürlich niemand genau. Aber wer wollte den Menschen unterstellen, dass sie zur Solidarität gezwungen werden müssen, weil sie sich sonst asozial verhalten würden? Nach dem Tsunami 2004 spendeten allein die Deutschen 670 Millionen Euro; wobei die 500 Millionen der Bundesregierung da nicht eingerechnet sind, denn das war keine freiwillige Spende. Da hat eine Person (Gerhard Schröder) das Geld anderer (der Steuerzahler) verschenkt . Bei der Elbeflut 2002 wurden auch 350 Millionen gespendet.
Die gute Nachricht ist jedoch: Es muss gar nicht genauso viel gespendet werden, wie man uns heute unter Androhung von Gewalt abnimmt, denn die Zahl der Bedürftigen wird erheblich sinken. Wenn man, wie im letzten halben Jahrhundert geschehen, Arbeitslosigkeit fördert, muss man sich nicht wundern, wenn man immer mehr davon bekommt. Heute erhält eine Familie mit zwei Kindern im Monat über 1500 Euro Lohnersatzleistungen. Wenn der Mann oder die Frau also auf dem Markt nicht erheblich mehr bekommen, werden sie nicht arbeiten gehen. Sicher, der Lohn für eine unqualifizierte Arbeit sinkt möglicherweise deutlich unter 1500 Euro; man muss aber keine Angst haben, dass ein Arbeitgeber seinen Angestellten so wenig zahlen kann, wie er Lust hat, die Arbeitnehmer also auf die Gnade ihrer Arbeitgeber angewiesen sind. Ist der Arbeitnehmer deutlich mehr wert, als er bezahlt bekommt, wird ein anderer Arbeitgeber ihn gerne zu einem höheren Lohn einstellen. Ohne gesetzlich festgelegten Kündigungsschutz ist der Markt auch erheblich flexibler. Heute wird sich ein Arbeitgeber dreimal überlegen, ob er einen älteren Mitarbeiter einstellt, den er vielleicht nicht so schnell wieder los wird. Strukturelle Arbeitslosigkeit wird es ohne Staat nicht mehr geben. Wenn die Unternehmen heute keine Menschen mehr einstellen, dann heißt das nicht, dass sie keine weiteren Arbeitnehmer mehr gebrauchen können, sondern nur, dass sich weitere Arbeitnehmer zu den heutigen Bedingungen (Lohnforderungen, Lohnnebenkosten, Kündigungsschutz, gesetzliche Anforderungen an den Arbeitsplatz etc.) nicht rechnen.
Die Leute, die Arbeit haben, verdienen »netto gleich brutto«, also erheblich mehr und werden es sich leisten können, gute Berufsunfähigkeits-Versicherungen abzuschließen. In einer freien Gesellschaft wird außerdem die Familie wieder an Bedeutung gewinnen, denn das war vor der Ära des Sozialstaats über Jahrtausende das klassische Sicherheitsnetz. Der kleine Teil der Menschen, der auch hier keine Hilfe bekommt, ist dann tatsächlich auf die freiwillige Hilfe Fremder angewiesen. Die werden aber erstens mehr zum Spenden zur Verfügung haben, zweitens wieder Spaß daran entwickeln, weil man sie nicht mehr zwingt, und drittens wird man sich mit privater Hilfe wieder besser profilieren können, da sie tatsächlich benötigt wird.
Wie werden sich denn die fühlen, die nun auf Almosen angewiesen sind?
Wer auf die Hilfe anderer angewiesen ist, wird sicher kein Anspruchsdenken entwickeln. Anspruchsdenken zerstört beim Gegenüber nämlich die Freude am Geben. Das ist der große Unterschied zwischen einer Forderung und einer Bitte. Nehmen wir an, mein Nachbar, mit dem ich befreundet bin, gerät in eine unvorhergesehene Notlage, weil seine Firma Bankrott macht. Er käme jetzt zu mir und sagte so etwas wie: »Hey, du verdienst so viel Geld und ich nichts. Du bist verdammt noch mal moralisch verpflichtet, mir etwas abzugeben.« Wie groß wäre dann meine Motivation ihm zu helfen? Wenn er allerdings um Hilfe bittet, statt sie zu fordern, würde ich ihn sicher nicht verhungern lassen. Ich werde ihm aber auch nicht den Rest seines Lebens einen 1500-Euro-Scheck garantieren, der ihm anonym zugestellt wird.
Heute wird sich ein Arbeitsloser nie wieder um Arbeit bemühen, wenn er von seinem Lohn Unterhalt für mehrere Kinder zahlen muss und weiß, dass der Staat auf jeden Fall für seine Kinder einspringt. Ihm ist klar, dass außer dem Staat an seiner Arbeit keiner gewönne. Diese Art der Fernstenliebe überfordert jeden. Wer von uns würde 40 Stunden in der Woche arbeiten, damit jedem Deutschen pro Monat 0,0025 Pfennige zukämen (2000 Euro Gehalt umgerechnet auf 80 Millionen Deutsche)?
Wir tun auch niemandem einen Gefallen, wenn wir ihm für den Rest seines Lebens das Dasein sichern. Für so jemanden verliert alles an Bedeutung. Die größte Motivation und das größte Glücksgefühl stellt sich bei uns Menschen ein, wenn wir uns einsetzen, um unser Leben zu verbessern und wir dabei erfolgreich sind. Wenn ich jemanden um diese Chance beraube und ihm lebenslang alimentierte Arbeitslosigkeit schenke, ist das sicher kein Akt der Barmherzigkeit.
Aber irgendwie will man den Menschen doch helfen.
Walter Wüllenweber hat 2004 in einem Artikel, für den er den Henri-Nannen-Preis bekam, eindrucksvoll und sprachlich brillant beschrieben, was es heißt, den Menschen die Zukunft zu nehmen. (Ende 2007 hat er dann mit dem schockierenden »Voll Porno« nachgelegt.) Seine Quintessenz lautet »Bildung«. Sein Lösungsvorschlag lässt sich auch mit dem bekannten chinesischen Sprichwort zusammenfassen: »Gib einem Hungernden einen Fisch, und er wird einen Tag lang satt; lehre ihn das Fischen, und er wird sein Leben lang satt.« Ich möchte das Sprichwort jedoch gerne umformulieren:
Schenke einem Hungernden keinen Fisch, schenke ihm auch kein lebenslanges Abo für ein Fischrestaurant, bringe ihm noch nicht einmal ungefragt das Angeln bei; halte ihn einfach nicht davon ab, sich das Angeln selbst beizubringen. Sollte er dich dabei eines Tages um Rat fragen, wirst du ihm gerne helfen.
Die Einstellung jeglicher Hilfe — wäre das auch die voluntaristische Philosophie im Umgang mit Entwicklungsländern?
Ja genau. Nehmen wir das Beispiel Afrika: Nach 50 Jahren Entwicklungshilfe befindet sich das Land in einem schlechteren Zustand als zu der Zeit, in der noch kein Geld floss. Die Lösung der Globalisierungsgegner und prominenter Popmusiker von Bono über Campino bis Geldof und Grönemeyer lautet im Gegensatz dazu: mehr vom Gleichen. Sie wollen also, dass den Menschen im Westen unter Androhung von Gewalt mehr Geld abgenommen wird, um damit eine Förderung auszuweiten, die nicht nur nichts nützt, sondern offensichtlich schadet. Alle Experten, die weder für eine Regierung arbeiten noch von Nichtregierungsorganisationen bezahlt werden, also wirklich unabhängig sind, sind sich einig, dass Entwicklungshilfe schadet. Das trifft auch — oder sogar ganz besonders — für die afrikanischen Experten zu. Sie wissen: Entwicklungshilfe bringt folgende Probleme mit sich, die sich einfach nicht vermeiden lassen:

> Sie stellt tyrannischen Staatsoberhäuptern die Mittel zur Verfügung, ihre Völker zu unterdrücken.

> Geld aus dem Ausland fördert eher die politische Industrie als die Wirtschaft oder die Produktivität vor Ort. Als Folge bemühen sich Afrikaner mit Potenzial eher darum, auch vom politischen Spiel zu profitieren und suchen ihr Glück in der Politik statt in der Wirtschaft. Politik schafft jedoch keinen Wohlstand. Das kann nur die Wirtschaft. Ein Bonmot, das in der Szene jeder kennt, lautet: Entwicklungshilfe ist das Alimentieren der Reichen in den armen Ländern durch die Armen in den reichen Ländern.

> Eigenständige privatwirtschaftliche Lösungsansätze und freier Unternehmergeist werden durch regierungsamtlich installierte Hilfen eher verhindert. Es entstehen ausgedehnte Bürokratien und zentralisierte Planwirtschaft. Eigeninitiative wird so bei Mächtigen und Ohnmächtigen gleichermaßen gelähmt und eine Bettlermentalität genährt. Alle erwarten, dass ihre Probleme von anderen gelöst werden. Es ist natürlich auch nicht im Interesse der Hilfsindustrie, einheimische Lösungsansätze zu fördern, da sie von den afrikanischen Problemen lebt. Selbst Nichtregierungsorganisationen, die anfangs hilfreich waren, sind es inzwischen nicht mehr. Die Menschen haben die besten Absichten, aber nun hängen viele Mitarbeiter von der Existenz ihrer Hilfsorganisationen ab und machen sich gegenseitig Konkurrenz. In manchen Gegenden treten sich die Hilfsorganisationen schon gegenseitig auf die Füße, so viele sind es — 3000 allein im kleinen Benin. Die Entwicklungshelfer müssen ihre Jobs rechtfertigen und jeden Tag aufs Neue beweisen, dass Afrika hilfsbedürftig ist. Wenn ein westlicher Journalist etwas über Afrika erfahren will, fragt er die privaten Hilfsorganisationen und die berichten, wie wichtig weitere Hilfe ist.

> Nahrungsmittelhilfen ersetzten die einheimische landwirtschaftliche Produktion, zerstören die Märkte und führen zu immer weiterer Abhängigkeit. Afrika hat die Fähigkeit zur Selbstversorgung mit Nahrungsmitteln verloren, die es hatte, bevor Entwicklungshilfe erfunden wurde. Die Pro-Kopf-Nahrungsmittelproduktion ist seit 1962 immer weiter gefallen.

 > Wird ein Projekt mit fremden Steuergeldern finanziert, fühlen sich die Afrikaner dafür nicht in dem Maße verantwortlich, als wenn sie ihr eigenes Geld investiert hätten.

>  Wenn sich afrikanische Politiker an ausländischen Spenden bereichern, fühlen sich die afrikanischen Bürger nicht so bestohlen, als wenn man ihnen das Geld weggenommen hätte. Die Politiker hätten einen viel größeren Rechtfertigungsdruck, wenn sie nur die Steuern ihres Volkes zur Verfügung hätten.

>  Häufig überschneiden sich die Programme der UN-Filialen und rivalisierenden Organisationen; es kommt zu Mehrfachförderungen. Nach eigenen Angaben kostet die mangelnde Koordination die Vereinten Nationen rund sieben Milliarden Dollar pro Jahr.

Das Konzept der Entwicklungshilfe wurde als strategisches Instrument im Kalten Krieg erfunden, um Vorherrschaft und Einfluss aufrechtzuerhalten. Aus dem nehmenden Kolonialismus ist nun lediglich ein gebender Kolonialismus geworden. In Uganda und Tansania speisen sich zum Beispiel 50 Prozent des Staatshaushalts aus Entwicklungshilfe. In solchen Fällen hört die Führung nicht auf ihre Wählerschaft, sondern auf die Geldgeber und investiert seine Zeit lieber in Verhandlungen mit Spendern statt in das Problemlösen vor Ort. Wie wirksam das Modell von Milliardentransfers ist, kann man übrigens auch in den sterbenden Regionen der neuen Bundesländer studieren.
Zur Frage, welche Rolle der Kolonialismus spielt, schreibt Thilo Thielke im Spiegel: »Demokratie ist in Afrika ein relativ neues Phänomen. Bis in die sechziger Jahre herrschten fast überall die Kolonialmächte, danach Diktatoren entlang der Fronten des Kalten Kriegs: hier Mobutu, dort Mengistu. Massenmorde sah man den Herrschern nach, wenn nur die Ideologie stimmte. Dass in europäischen Medien ein schwarzer Toter weniger zählt als ein weißer, ist jedenfalls ein sich hartnäckig haltender Mythos. In Wahrheit zählt nämlich nicht das schwarze Opfer wenig, sondern der schwarze Täter. Wo sonst auf der Welt hätte man sich solche Leichenberge leisten können, ohne den Verlust der Reputation und internationalen Unterstützung zu riskieren? In Afrika geht das immer noch. Und das ist wenigstens ein Grund dafür, warum das Schuldbewusstsein der afrikanischen Alleinherrscher so unterentwickelt ist. Jahrzehntelang haben ihnen die Entwicklungshelfer souffliert, für all das von ihnen angerichtete Elend sei in Wirklichkeit das böse Erbe des Kolonialismus verantwortlich.«
Etwas später schreibt er: »Der Rest der Welt trägt aber wirklich eine Mitverantwortung für das Desaster. Dass afrikanische Führer viel Geld für Waffen, Luxuskarossen und teuren Schnickschnack haben, liegt auch daran, dass sie sich um das Gesundheitswesen, die Infrastruktur oder die Bildung nicht mehr zu kümmern brauchen, weil in Afrika praktisch alles, was unter die Fürsorgepflicht des modernen Staats fällt, von ausländischen Helfern übernommen wird.«
Was genau sollte man in Sachen Entwicklungshilfe also tun?
Wir sollten die Entwicklungshilfe beenden und beginnen, einfach Geschäfte miteinander zu machen. Um dem Anpassungsprozess etwas Zeit zu geben und keinen Umstellungsschock auszulösen, könnte die Entwicklungshilfe stufenweise auf null reduziert werden.
Länder kommen nicht durch Geld- und Gütertransfers zu Wohlstand, sondern nur durch produktive Arbeit, Arbeitsteilung und freien Handel. Im Laufe der Geschichte haben die meisten Gesellschaften den Weg aus der Armut ohne Hilfsgaben von außen geschafft. Jedes entwickelte Land war einmal unterentwickelt, andernfalls befänden wir uns ja auch heute noch in der Steinzeit.
Voraussetzung für die Entwicklung sind wie bei unsSelbsteigentum, gesicherte Eigentumsrechte und Vertragsfreiheit. Wohlstand kann nur entstehen, wenn sich Investitionen lohnen, und dafür müssen sich die rechtlichen Rahmenbedingungen erheblich verbessern. Aus dem Vergleich der Investitionsbedingungen in 175 Ländern hat die Weltbank eine Rangliste erstellt, und die Mehrzahl der Länder in Afrika liegt weit abgeschlagen im unteren Drittel. Damit sich die Rahmenbedingungen verbessern, muss der Druck auf die afrikanischen Regierungen erhöht werden. Ohne Entwicklungshilfe würden die bestehenden Machtstrukturen wahrscheinlich schnell gesprengt. Die derzeitigen Machthaber sind natürlich keine Opfer, sondern Täter, und sie sind nicht arm. In Afrika besitzen 75.000 Millionäre über 700 Milliarden Dollar. Weitere 400 Milliarden befinden sich in afrikanischen Privathänden außerhalb Afrikas.
Der nächste wichtige Punkt ist der Verzicht auf sämtliche Handelsschranken, Zölle und Exportsubventionen. Wenn die Industrieländer Zölle auf afrikanische Produkte erheben, ist das natürlich keine Entwicklungshilfe, sondern eine Entwicklungsunterdrückung. Die Industrieländer schützen hierdurch lediglich ihre einheimischen Anbieter. Wenn dann auch noch die Herstellung unserer landwirtschaftlichen Produkte und deren Export subventioniert wird, drückt das die Weltmarktpreise auf ein künstlich niedriges Niveau. Die afrikanischen Anbieter der gleichen Produkte — oder alternativer Produkte — sind dadurch nicht mehr konkurrenzfähig. Diese landwirtschaftlichen Produktions- und Exportsubventionen der Industrieländer betrugen im Jahr 2004 über 350 Milliarden Dollar. Dem gegenüber stand eine Milliarde Dollar an Landwirtschaftshilfe, die nach Afrika floss. Was die westliche Agrarpolitik anrichtet, lässt sich mit Entwicklungshilfe nicht reparieren. Besonders schädlich ist es, wenn die Industrieländer auf verarbeitete Produkte aus Afrika höhere Zölle erheben als auf Rohstoffe. Das senkt die Nachfrage nach Verarbeitung in Afrika und dann siedelt sich dort auch weniger ausländische Industrie an.
Die einzigen, denen ein freier Handel schaden könnte, sind Interessensgruppen wie zum Beispiel die Landwirte der Industrieländer, die politische Elite in Afrika und die Menschen, die von der Entwicklungshilfe leben, also Angestellte der Nichtregierungsorganisationen und Angestellte der Regierungen. In Deutschland arbeiten zirka 600 Menschen im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Statt anderer Leute Geld zu verschenken und damit Unselbstständigkeit und Elend zu fördern, könnten sich diese Leute zukünftig eine bezahlte Arbeit in Afrika suchen. Der kulturelle und Wissensaustausch, der dadurch entsteht, bereichert das Leben der Menschen nämlich tatsächlich, wie der kenianische Ökonom und Entwicklungshilfegegner James Shikwati sagt: »Bis jetzt ist es die Interaktion zwischen dem großen Bruder, der Geld hat, und dem kleinen Jungen, der um Geld bettelt. Wir sollten die Entwicklungshilfe beenden und beginnen, einfach Geschäfte miteinander zu machen. Das wäre ein Austausch zwischen Gleichen. Man würde dann beginnen, uns zuzuhören, anstatt uns zu belehren.«
Viele Länder in Afrika waren nach dem Ende ihrer Kolonialzeit auf dem gleichen wirtschaftlichen Niveau wie Südkorea oder Taiwan. Während die südostasiatischen Tigerstaaten nach dem zweiten Weltkrieg den Weg des Kapitalismus und des Freihandels gingen, entschieden sich die meisten afrikanischen Staaten für Abschottung und sozialistische bzw. nationalsozialistische Modelle. Das Ergebnis: In Südkorea liegt das Pro-Kopf-Einkommen neunmal höher als das in Ghana. Auch Indien und China, ehemals die Armenhäuser der Welt, haben ihre Armut deutlich verringern können. Das Wirtschaftswachstum war in den vergangenen Jahrzehnten in ganz Asien deutlich höher als in Afrika. Auch hier waren die marktwirtschaftlichen Reformen und der Öffnung für den Welthandel das Geheimnis und nicht die Entwicklungspolitik. »Die Hilfsgelder waren nicht maßgeblich für den Erfolg der Schwellenländer Asiens«, meint der Professor für Entwicklungsökonomie an der Universität Leipzig, Helmut Asche.
Bartholomäus Grill, Leiter des Afrika-Büros der Zeit schreibt in seinem Artikel »Schneepflüge für Guinea«, der die Misere gut zusammenfasst: »Strümpfe stricken für die Negerkinder, so steht es schon in Thomas Manns Buddenbrooks. Die postmoderne Variante bei den Popkonzerten von Bob Geldof heißt: Gitarren zupfen für die Afrikaner. […] man will irgendwie kompensieren, was der ›weiße Mann‹ den Verdammten dieser Erde angetan hat. Und dabei setzt manchmal die Vernunft aus.«
Das klingt alles so herzlos. Man möchte aber doch mit seinen Spenden einfach nur Gutes tun und kann nicht glauben, dass das verkehrt sein soll.
Diese Sorge ist verständlich. Marktwirtschaftlern blutet das Herz im Angesicht des Elends in der dritten Welt jedoch ebenso wie Politikern, die sich in der Entwicklungshilfe engagieren. Der ugandische Entwicklungsexperte Andrew Mwenda, der auch fordert, jegliche Entwicklungshilfe einzustellen, antwortet auf die Frage eines Journalisten, ob es denn überhaupt etwas gebe, was man tun könne: »Wenn sie partout Geld geben wollen, dann bitte nicht an die Regierungen, sondern direkt an unabhängige Universitäten oder Forschungseinrichtungen.« Daraufhin fragt Rolf Ackermann von der Wirtschaftswoche nach: »Passiert das nicht längst?« Mwenda: »Nur in ganz geringem Umfang. Weniger als fünf Prozent gehen direkt an private Institutionen. Wenn überhaupt, dann brauchen wir Hilfe, die den Menschen nützt, nicht den Regierungen.«
Es geht hier bei der Kritik ausdrücklich nicht um humanitäre Hilfe, die freiwillig geleistet wird. Folgende Geschichte von Marshall Rosenberg macht vielleicht deutlich, worum es Voluntaristen geht:
Stellen wir uns vor, dass ein Mann flussaufwärts spazieren geht, ganz in der Nähe eines Wasserfalls. Auf einmal sieht er, dass ein Baby im Fluss schwimmt und auf den Wasserfall zutreibt. Der Mann springt kurzentschlossen in den Fluss und holt das Baby heraus. Kurz danach entdeckt er das nächste Baby im Fluss, das dem sicheren Tod entgegen treibt. Wieder springt er in Wasser und rettet ein Leben. Kaum verschnauft, sieht er nun zwei Babys, die hilflos im Wasser paddeln. Mit Mühe schafft er es, beide herauszuholen. Aber es scheint verhext: Kaum kommt er am Ufer an, um die Babys abzusetzen, entdeckt er neue im Fluss. Die Zahl der Kinder nimmt permanent zu, und inzwischen schafft er es nicht mehr, alle zu retten. Manche stürzen den Wasserfall hinunter und ertrinken. Was soll der Mann tun? Ja, so brutal es klingt: Er muss aufhören, weiter ins Wasser zu springen und unmittelbar Leben zu retten, aber nur, um noch mehr Leben zu retten, indem er nämlich die Ursache der Tragödie ermittelt und abstellt. Er muss flussaufwärts laufen und herausfinden, wer die Babys ins Wasser wirft, und denjenigen davon abhalten.
Wer baut die Straßen, wenn es keinen Staat mehr gibt?
Diese Frage stellen sich tatsächlich die meisten Leute, wenn sie das erste Mal darüber nachdenken, wie der Alltag ohne Staat aussähe. Es beginnt damit, dass es keine öffentlichen Grundstücke mehr gibt. Jede Straße, jeder Platz, jeder Wald, jeder Fluss gehört entweder einem Einzelnen, einer Firma oder einer Gruppe, die sich freiwillig zusammen geschlossen hat. Wenn mir nun zufälligerweise ein kleines Stück Straße gehören sollte, dann rechnet es sich natürlich nicht, dort ein aufwendiges elektronisches Mautsystem zu installieren. Ich werde die Straße wahrscheinlich einem größeren Konsortium verpachten, das dann ein ganzes Wegenetz verwaltet, in dem sich die Installation von Mautsystemen rechnet.
Man würde also bei jeder Straßenbenutzung bezahlen müssen. Die Gebühren wären in der Regel jedoch nicht sehr hoch. Aber sie wären abhängig von der Nachfrage. Und das hätte eine Menge Vorteile: Heute zahlt jeder Mineralölsteuer proportional zu den gefahrenen Kilometern, unabhängig davon, welche Straße er zu welcher Zeit benutzt. Privat würde das natürlich keiner so organisieren. Auf einem Markt bestimmt bei einem gegebenen Angebot die Nachfrage den Preis. Die Nutzung von wenig befahrenen Landstraßen wäre sehr billig; wer jedoch zur Stoßzeit durch die Stadt fahren will, müsste deutlich mehr bezahlen. Auch die Autobahnen wären zur Urlaubszeit vergleichsweise teuer. Damit würden Staus der Vergangenheit angehören. Auch nach Unfällen würden die Straßen viel schneller geräumt, denn im Gegensatz zum Staat, hat ein privater Betreiber ein großes finanzielles Interesse daran, dass die Leute seine Straßen nicht umfahren werden.
Wer sich trotzdem zu den teuren Zeiten bewegen will, kann Fahrgemeinschaften, Busse und Bahnen nutzen, die dann mehr nachgefragt und privat sicher kundenfreundlicher und pünktlicher betrieben würden. Es wird sich sicher auch eine Menge des Güterverkehrs, der derzeit zu 70 Prozent auf der Straße stattfindet, auf Bahn und Schiff verlagern, denn das Betreiben eines Speditions-LKWs wird wahrscheinlich teurer, zumindest wenn er sich hauptsächlich tagsüber auf Autobahnen bewegt.
England lieferte bereits im 18. Jahrhundert ein gutes Beispiel für den Unterschied zwischen einem staatlichen und einem privaten Verkehrsnetz: Die öffentlichen Straßen waren schlecht gebaut und schlecht erhalten. Sie hätten niemals die industrielle Revolution ermöglichen können. Tatsächlich errichteten private Straßengesellschaften seit 1706 ein großes Netz, um das England die ganze Welt beneidete. An speziellen Toren wurde eine Maut erhoben, mit der sich die Straßen refinanzierten. Und weil alle davon profitierten, verbanden sich die Straßengesellschaften miteinander, um ein effizientes Straßennetz für das gesamte Land zu schaffen.
Zwischen 1800 und 1830 entstand in den nordöstlichen Staaten Amerikas auf die gleiche Weise ein großes Straßennetz. Und auch hier zeigte sich, dass private Erbauer und Eigentümer dem Staat weit überlegen waren.
Aber gäbe es nicht ein heilloses Durcheinander, wenn nicht mehr der Staat die Verkehrsregeln festlegen würde? Und ist das nicht auch der Grund, warum wir eben in manch anderen Wirtschaftsbereichen jemanden brauchen, der gleichsam ein Machtwort sprechen kann?
Natürlich könnte jeder Straßenbesitzer seine Verkehrsregeln völlig beliebig festlegen. Wer wollte, könnte rosarota Ampeln bauen, die die Weiterfahrt bei der Anzeige himmelblauer Wölkchen erlaubten. Prinzipiell könnte ein Straßenbesitzer, um Geld zu sparen, auch ganz auf Fahrbahnmarkierungen, Verkehrsschilder und Ampeln verzichten. Nur läge das nicht in seinem Interesse, wenn es dadurch öfter zu Unfällen käme. Die Autofahrer würden seine Straßen wo immer möglich umgehen. Die Betreiber der Straßen würden sich deshalb sehr schnell auf die Regeln einigen, die zu der Mischung aus Annehmlichkeit und Sicherheit führen würde, die die meisten Leute wünschen. Es ist jedoch ein Irrglaube, dass ein Mehr an Markierungen und Verkehrszeichen immer zu größerer Sicherheit führt. Reinhard Sprenger beschreibt in einem seiner Bücher wie sich jahrelang am Baldeneysee Fußgänger und Radfahrer einen Weg teilen. Als es eines Tages zu einem schweren Unfall kommt, dauert es nicht lange, bis die Behörden den Weg unterteilen und den Radfahrern einen eigenen Bereich zuweisen. Von diesem Tag an stieg die Unfallquote dramatisch an. Wie kann das sein? Vorher achtete man eben aufeinander, und seit die Radfahrer sich auf ihrem Radweg im Recht fühlen, fahren sie weniger umsichtig.
Wie würden in einer staatslosen Gesellschaft Konflikte gelöst? Wie sähe das Rechtssystem aus und gäbe es ohne Polizei nicht Chaos und Bürgerkrieg?
Beginnen wir mit einem einfachen Beispiel, bei dem ich einen Verkehrsunfall habe: Ich rufe meine Versicherung an, und die wird einen Agenten schicken, um den Unfall aufzunehmen und Beweise zu sichern. Mein Unfallgegner wird das Gleiche tun. Betrachten wir nun zunächst den Fall, bei dem wir beide Kunde der selben Versicherung sind. Hier kommt natürlich nur ein Agent, und die Versicherung wird nachher selbst entscheiden, wer Schuld hatte, also je nach Vertrag eine Selbstbeteiligung und künftig höhere Prämien zahlen muss. Die Versicherung wird sich bemühen, ein besonders faires Urteil zu fällen. Sie kann es sich nicht leisten, beispielsweise Großkunden dauerhaft zu bevorzugen, weil sich so etwas schnell herumspräche und die Versicherung die meisten Kleinkunden verlöre.
Sind die Unfallgegner Kunde bei unterschiedlichen Versicherungen, passiert Folgendes: Schon lange vor dem ersten Unfall einigen sich alle Versicherungsgesellschaften auf die Vorgehensweise in Konfliktfällen. Sie werden wahrscheinlich vertraglich festlegen, sich dem Urteil eines privaten unabhängigen Schlichters zu unterwerfen. Dieser Schlichter fungiert dann wie ein Gericht. Auch er wird bemüht sein, möglichst faire Urteile zu fällen, denn würde er beispielsweise immer die größeren Versicherungsgesellschaften bevorzugen, würden sich die kleineren künftig nicht mehr mit den anderen Gesellschaften auf diesen Schlichter einigen. Im Gegensatz zu den heutigen Gerichten, auf deren teure Urteile man oft Jahre warten muss, könnten Schlichter es sich nicht leisten, so mit ihren Kunden umzugehen und so ineffektiv zu arbeiten. Das geht nur, wenn man über ein Monopol verfügt, so wie die Gerichte heutzutage.
Wer gewährt die Sicherheit auf den Straßen, so wie heute die Polizei?
Zunächst werden die Besitzer der Straßen für Sicherheit sorgen, indem sie private Sicherheitsdienste beschäftigen. Wenn mir eine Geschäftsstraße oder eine Straße mit Wohnhäusern gehört, habe ich ein großes Interesse daran, dass die Leute dort nicht überfallen werden. Andernfalls käme keiner mehr zum Einkaufen und niemand würde dort wohnen wollen. Das Gleiche gilt, wenn mir ein Park oder Wald gehört. Entweder ich will das Gelände nur alleine nutzen, dann werde ich es bestimmt sichern oder ich möchte, dass andere Leute dort gegen Gebühr ihre Freizeit verbringen, dann werde ich auch dafür sorgen, dass möglichst wenige Verbrechen geschehen, um mir nicht das Geschäft zu verderben.
Aber nehmen wir mal an, dass sich in einem bestimmten Gebiet die Verbrechen häufen. In dem Fall werden die Versicherungen ein Interesse haben, dort die Verbrechensrate zu senken, denn jedes Verbrechen bedeutet für sie Kosten, weil die Opfer entschädigt werden müssen.
Aber wer hält einen Mörder davon ab, mich einfach umzubringen?
Natürlich ist das weiterhin möglich, und keine Art des gesellschaftlichen Zusammenlebens wird Morde je vollständig verhindern können. Keiner behauptet deshalb, dass nach dem Verzicht auf einen Staat paradiesische Zustände ausbrechen, in denen es keine schlechten oder verrückten Menschen mehr gibt. Man sollte deshalb einfach den Status quo vergleichen mit dem, was wäre, wenn es kein Gewaltmonopol mehr gäbe.
Heute werden Verbrechensopfer doppelt bestraft: Zunächst bekommen sie keine angemessene Entschädigung, und wenn es zu einer Verurteilung kommt, muss das Opfer mit seinen Steuern dem Täter Kost und Logis für die nächsten Jahre in der Haftanstalt finanzieren. In einer staatslosen Gesellschaft würden Verbrecher von den Schlichtern bei einem Schuldspruch wahrscheinlich zu hohen Strafen verurteilt, die dann aber nicht in irgendwelche Staatskassen flössen, sondern in die des Opfers, oder bei Mord in die der Erben. Wenn der Täter das Geld nicht besitzt, muss er dafür arbeiten — wenn nötig lebenslang. Eine Abschreckung gäbe es hier also genauso.
Was es jedoch ziemlich sicher nicht gäbe, wären Staatsanwälte, die Verbrechen verfolgen, in denen das Opfer kein Interesse an einer Verurteilung des Täters hat oder bei denen es gar kein Opfer gibt. Dazu gehören unter anderem das Glücksspiel, freiwillige Prostitution, das Einnehmen von Drogen und die Missachtung der Schulpflicht. Indem man diese gewaltlosen Betätigungen kriminalisiert, schafft man durch größere Gewinnmargen Anreize für Kriminalität. Die Illegalität verhindert jedoch Verträge, offenen Wissensaustausch und friedliche Konfliktlösungen; so kommt es dann zu tatsächlicher Kriminalität. Des Weiteren fördert man die Kriminalität, indem man legale Arbeit mit Steuern, Sozialabgaben, Zöllen und so weiter bestraft.
Jedes System, das die möglichen Gewinne bei Verbrechen verringert und den Gewinn der ehrlichen Arbeit steigert, wird die Kriminalität deshalb sofort erheblich verringern. Wenn wir von Verbrechen aus Leidenschaft einmal absehen, dann handeln auch Verbrecher ökonomisch. Verbrecherische Aktivität bedeutet Arbeit, und wenn man mit ehrlicher Arbeit mehr verdienen könnte, würde man nicht verbrecherisch tätig.
Da Versicherungen in einer staatslosen Gesellschaft weitestgehend auch die Polizei-Aufgaben übernehmen, steigt deren Anreiz, Verbrechen zu verhindern. Deren Versicherungsverträge werden Vorsorge deshalb besonders belohnen. Es wird sich also mehr als heute rechnen, sein Haus und übriges Eigentum mit wirksamer Sicherheitstechnik auszustatten.
Der größte Rückgang der Kriminalität ist jedoch durch den Wegfall der Waffenverbote zu erwarten. Dazu gibt es weiter unten eine eigene Frage.
Wer schützt uns davor, dass die größte Versicherung mit ihrer schlagkräftigen Einsatztruppe nicht irgendwann über ein Monopol verfügt und die schöne freie Gesellschaft unterjocht?
Das ist eigentlich eine treffende Beschreibung des jetzigen Zustandes. Zugegeben, wir dürfen alle paar Jahre mit darüber abstimmen, wer uns unterjocht, aber keiner würde bestreiten, dass der Staat ein Gewaltmonopol besitzt. Es ist daher etwas verwunderlich, wenn alle Welt aus Angst vor Monopolen nach einem Zwangsmonopol ruft. Wenn man die Menge des Unrechts, das weltweit verübt wird, genauer analysiert, dann fallen die privaten Verbrechen gegen die der Regierungen geradezu lächerlich aus. Im 20. Jahrhundert wurden 262.000.000 Menschen Opfer von Verbrechen, die im Namen von Regierungen begangen wurden. Mehr als eine Viertelmilliarde — das ist eine Menschenkette, die zehnmal um die Erde reicht.
Tatsächlich bilden sich auf dem freien Markt keine Monopole. Ab einer gewissen Größe werden Firmen nämlich ineffizient, weil sie zu unübersichtlich werden und nicht mehr zu führen sind. In unserem jetzigen Wirtschaftssystem können Firmen lediglich deshalb so groß werden, weil sie politischen Einfluss gewinnen und dann vom Staat Förderungen, Vorteile und Schutz erhalten. Mittelständische und kleine Firmen werden im Gegensatz dazu erheblich benachteiligt.
Bliebe noch die Möglichkeit einer gewaltvollen Übernahme der anderen Versicherungen. Krieg rechnet sich auf einem freien Markt jedoch nicht. Ein bewaffneter Konflikt kostet unglaublich viel Geld und der Ausgang des Konflikts ist immer ungewiss. Zunächst einmal müsste die große Versicherung all ihre Mitarbeiter, die keine kriegerischen Absichten haben, davon überzeugen, sich jetzt an einer gewaltvollen Verschwörung zu beteiligen. Die absolut überwiegende Mehrheit der Menschen könnte einen bewaffneten Überfall jedoch nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Käme es tatsächlich zu einem bewaffneten Konflikt, müsste die Versicherung ja all das zerstören, was sie eigentlich übernehmen will. Am Ende besäße sie wahrscheinlich weniger als zu Anfang des Konflikts. Kriege rechnen sich immer nur dann, wenn die, die über den Beginn eines Krieges entscheiden die Kosten nicht selbst tragen müssen. Unter dem Strich ist jeder Krieg auch für den Sieger fast immer ein Verlust. Lediglich, wenn die siegende Partei aus mehreren Gruppen besteht, wobei eine Gruppe die Kosten trägt und die andere die Gewinne einfährt, wird der Krieg für einige zu einem lohnenden Unternehmen. Dieses Gewinne-Einfahren kann zum Beispiel auch über Beteiligungen bei Waffenfirmen stattfinden. Das Problem, dass den meisten Menschen ihr Gewissen bewaffnete Konflikte verbietet, kann nur eine Regierung oder eine Sekte überwinden. In einem Wirtschaftsunternehmen können die Führer nie so eine starke Identifikation der Mitarbeiter mit ihren Kollegen erzielen und so einen starken Hass auf die Konkurrenz; einem Staat fällt die Patriotisierung seiner Bürger viel leichter. Bei jeglicher Art von Gruppen-Propaganda werden Mitarbeiter viel schneller argwöhnisch gegenüber dem Management als Bürger gegenüber ihrer Regierung.
Wie würde sich ein Land ohne Staat vor anderen imperialistischen Ländern schützen?
Eine staatslose Gesellschaft würde kein anderes Land bedrohen, also erst gar keine Aggressionen provozieren. Solche Aggressionen gehen immer nur von Regierungen aus, die ihre Kriege über Steuern, Staatsverschuldung oder Gelddrucken finanzieren können. Sollte eine einzelne Sicherheitsfirma oder Versicherung aus der staatslosen Gesellschaft ein anderes Land bedrohen oder überfallen, würden die Menschen in dem angegriffenen Land diese Firma nicht mit dem ganzen staatslosen Land identifizieren. Wenn mir heute ein Verbrecher aus einem anderen Stadtteil Schaden zufügt, werde ich mich auch nicht an seinen Nachbarn rächen.
Nehmen wir trotzdem einmal an, ein Diktator in einem Nachbarland würde gerne sein Territorium ausweiten und das Volk der staatslosen Gesellschaft versklaven. Das würde kein leichtes Unterfangen, wenn nämlich kein Staatsapparat mehr existiert und vor allem keine Staatshörigkeit mehr unter den Menschen, ist ein Land praktisch unregierbar. Die Besetzer hätten auch einen endlosen Guerillakrieg gegen gut bewaffnete Bürger zu führen, die im Namen der Freiheit sicher vereint gegen den Angreifer wären. Es wäre für imperialistisch gesinnte Regierungen also viel attraktiver, Länder zu überfallen, die erstens einen funktionierenden Staatsapparat haben, der einfach ersetzt werden kann, und zweitens ein Volk, das sich noch nicht vom Regiertwerden entwöhnt hat.
Gleichwohl würden sich wahrscheinlich die meisten Menschen wohler fühlen, wenn eine gemeinsame Landesverteidigung sichergestellt wäre. In diesem Fall lautet die erste Frage meist …
Wie will man die Menschen dazu bekommen, für eine kollektive Verteidigung zu zahlen, bei der keine Ausschließbarkeit möglich ist? Trittbrettfahrer, die nichts zahlen, würden schließlich auch von dieser Verteidigung profitieren.
Wenn es nur um Verteidigung geht, lässt sich das im Vergleich zu unseren heutigen Etats (2007 über 400 Milliarden Dollar allein in den USA) extrem günstig erreichen. Wenn die Menschen jedoch für die Verteidigung aufkommen müssen, ob sie wollen oder nicht, werden die Kosten explodieren, weil sich die Verantwortlichen nicht um maximale Effizienz bemühen müssen. Noch stärker steigen die Kosten, wenn man sich auch auf Angriffe vorbereitet, weil man in missionarischem Eifer die Welt retten möchte, indem man überall das eigene Gesellschaftsmodell installiert.
In der Geschichte unseres Planeten wurden Länder mit Atomwaffen noch nie angegriffen. Es reichen zur Abschreckung also ein paar gut platzierte Atomraketen. Wenn man deren Kosten auf die Einwohner verteilt, ergibt sich nicht mehr ein vierstelliger Betrag pro Einwohner und Jahr, sondern höchstens ein zweistelliger. Der häufigste Einwand ist in der Tat, dass die meisten Leute nur Geld geben werden, wenn sichergestellt wäre, dass auch alle anderen zahlen müssen. Dagegen spricht jedoch das tägliche Verhalten der Menschen: Die meisten geben Bedienungen Trinkgeld ohne diese Garantie. Viele spenden für wohltätige Zwecke ohne diese Garantie. Und außerdem entstünde ein gewisser sozialer Druck: Die Verteidigungsagenturen könnten Spenderaufkleber herausgeben, sodass jeder an seinem Auto oder seiner Wohnungstür dokumentieren könnte: Ich drücke mich nicht. So wie heute Unternehmen damit Werbung machen, dass sie ihre Arbeitsstätten trotz Mehrkosten ökologisch führen, so könnte man sich hier mit Verteidigungsspenden profilieren.
Wie absurd die derzeitige Situation ist, sollte jedem klar werden, wenn er sich Folgendes vor Augen führt: Mit einer kollektiven Verteidigung wollen wir uns davor schützen, dass uns andere Regierungen unseres Geldes und unserer Freiheit berauben. Was für einen Sinn hat es dann, einer Gruppe von Einheimischen die Macht zu geben, uns unseres Geldes und unserer Freiheit zu berauben, um das zu vermeiden?
Aber selbst wenn die Finanzierung sichergestellt wäre, habe ich Probleme mit der Vorstellung, dass private Agenturen Atomwaffen besitzen.
Wenn ein Unternehmen tatsächlich freiwillige Spenden für kollektive Verteidigung einnehmen will, dann wird es alles Erdenkliche für Transparenz und Kontrolle tun. Solche Firmen müssten unabhängigen Dritten gestatten, jederzeit und ohne Begrenzungen alles zu kontrollieren, was sie wollen. Klar, eine 100-prozentige Sicherheit wird es hier nicht geben, aber die Sicherheit muss nur größer sein als die, die wir jetzt haben. Die ist allerdings ziemlich niedrig, denn in unserem derzeitigen System gibt es drei Parteien: die, die den Krieg erklären können (Politiker), die, die vom Krieg profitieren (Rüstungsindustrie) und die, die den Krieg bezahlen (das Volk). Gruppen eins und zwei sind oft miteinander verwoben. Wenn ich als Politiker einen Krieg anzetteln kann, ohne die Kosten tragen zu müssen, dann ist meine Hemmschwelle natürlich sehr niedrig. Wenn ich durch die Verstrickung mit Rüstungsfirmen als Politiker bei einem Krieg sogar profitieren kann, dann habe ich gar keine Hemmschwelle, sondern eine Motivation.
Will hingegen jemand in einer Privatrechtsgesellschaft einen Krieg anfangen, muss er ihn auch selbst finanzieren. Das ist eine ziemlich gute Versicherung. Bei Kriegen ergibt sich nämlich auch für den Sieger kein Gewinn, wenn er die Kosten nicht auf andere abwälzen kann. Die zerstörten feindlichen Gebiete und das dezimierte Volk ist eher eine Last als eine Stütze.
Würde in einer Gesellschaft ohne Staat jeder private Person eine Waffe tragen dürfen?
Jeder, der sich nicht ausführlich mit der Forschungslage zum Thema Waffen beschäftigt hat, denkt: »Je weniger Waffen, desto weniger Gewalt.« Leider ist das ein Irrtum, wie sich empirisch zweifelsfrei nachweisen lässt. Der englische Slogan »if you outlaw guns, only outlaws have guns« bringt das Problem auf den Punkt: Ein Waffenverbot zerstört nicht von Geisterhand alle Waffen. Es sorgt nur dafür, dass man sich Waffen illegal beschaffen muss, und das ist für Verbrecher kein großes Problem. Bei einer Umfrage unter Verbrechern würde wahrscheinlich ein einstimmiges Votum für gesetzliche Waffenverbote herauskommen, denn das Leben eines Verbrechers wird erheblich einfacher, wenn er weiß, dass das gesamte Volk aus unbewaffneten Opfern besteht.
Gerne wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass es in den USA mit einem verfassungsmäßigem Recht auf Waffenbesitz mehr Gewaltverbrechen gibt als in Deutschland, in dem eines der strengsten Waffengesetze Europas gilt. Hier werden jedoch Äpfel mit Birnen verglichen, weil die Kriminalität von erheblich mehr Faktoren abhängt als lediglich den Waffengesetzen. Um ernsthaft erforschen zu können, welchen Einfluss ein Waffenverbot auf die Kriminalität hat, muss man ein und dasselbe Land miteinander vergleichen, einmal mit und einmal ohne Waffenverbot.
In Großbritanien wurde beispielsweise der Schusswaffenbesitz vor einigen Jahren verboten, und die Zahl der Raubüberfälle und Morde mit illegalen Schusswaffen ist explodiert.
Amerika eignet sich auch gut zur Untersuchung dieser Frage, denn die Waffengesetze werden von den einzelnen Staaten unterschiedlich festgelegt und öfters geändert. Da sich Delikte von Raubüberfällen und Morden auf minder schwere Straftaten wie Diebstahl und Betrug verlagern, wenn man den Bürgern das verdeckte Tragen von Schusswaffen in der Öffentlichkeit erlaubt, gehen immer mehr Staaten dazu über, das Tragen von Waffen (»concealed-carry-permit«) nach einer entsprechenden Ausbildung zu erlauben.
In der amerikanischen Stadt Kennesaw gibt es sogar ein Gesetz, das den Bürgern vorschreibt, eine Waffe zu besitzen. Nachdem das Gesetz eingeführt wurde, ist die Kriminalität deutlich zurück gegangen.
Zugegeben: In zwei von fünf amerikanischen Haushalten gibt es Waffen und die Mordrate beträgt unglaubliche 5,9 Tote je 100,000 Menschen im Jahr. In der Schweiz besitzen jedoch auch 27 Prozent aller Haushalte eine Waffe, aber die Mordrate beträgt lediglich 1,1 je 100,000 Menschen. In Norwegen hat jeder dritte Haushalt eine Waffe und dort liegt die Mordrate sogar unter 1 pro 100,000. Die Kultur der Menschen scheint erheblich wichtiger zu sein als die Zahl der Waffen. Schließlich schießen Waffen nicht alleine — ein Mensch muss den Abzug ziehen. Wenn wir bei den Amerikanern die Morde mit Schusswaffen abziehen, liegt deren Mordrate immer noch weit über der der Schweizer und Norweger. James Bartholomew, ein Journalist, der für den Daily Telegraph schreibt, schließt nicht aus, dass das ein Echo auf das organisierte Verbrechen ist, das während der Prohibition in den USA entstand.
Noch ein paar eindrucksvolle Zahlen aus den USA: Der Staat New Jersey hat 1966 strikte Waffengesetze eingeführt und zwei Jahre später war die Mordrate um 50 Prozent gestiegen und die Raubdelikte um 100 Prozent. 1976 hat Washington D.C. die striktesten Waffenbeschränkungen in den USA eingeführt. Seitdem ist die Mordrate nach Angabe des National Center for Policy Analysis um 134 Prozent gestiegen, während die der gesamten USA in der gleichen Zeit um zwei Prozent gesunken ist.
Ein Fünftel aller Morde in den USA finden allein in vier Städten statt: New York, Chicago, Detroit und Washington D.C. All diese Städte haben Waffengesetze mit starken Einschränkungen.
Der Wirtschaftswissenschaftler Professor John R. Lott von der Universität von Illinois, Chicago, hat eine 18 Jahre umfassende Studie veröffentlicht, aus der eindeutig hervorgeht, dass die Zahl der Gewaltverbrechen in den US-Bundesstaaten mit völliger Waffenfreiheit geringer ist. Sein Buch »More guns, less crime« ist die Referenz zu dem Thema Waffengesetzgebung.
Interessant ist auch, dass die meisten Gewalttaten gar nicht mit den Waffen verübt werden, die man verbieten kann. In der Zeit von 1998 hat man eine Statistik der Tötungsdelikte und anderen Gewaltverbrechen im Großraum Frankfurt angefertigt, bei denen die benutzte Waffenart gemeldet wurde. Es wurden 753 schwere Straftaten ausgewertet. Das Ergebnis: Es werden fast so viele Straftaten mit Messern begangen wie mit allen anderen Waffen zusammen. Wenn die Tatwaffen Pistolen und Gewehre sind, stammen sie alle aus illegalem Besitz. Legal besessene Waffen spielen nur bei Polizisten eine Rolle. Sie nutzen einfach ihre Dienstwaffe für Straftaten. Pro Jahr geschehen bei uns in Deutschland knapp 50 schwere Straftaten (Raub, Mord und Mordversuch) mit legalen Waffen. Wer begeht die? Knapp 2,5 Millionen Bürger besitzen wenigstens eine legale Schusswaffe, und es gibt 250.000 Polizisten mit einer Dienstwaffe. Aus beiden Gruppen kommen die Hälfte der Straftaten. Das bedeutet, dass Polizisten mit zehn Mal größerer Wahrscheinlichkeit schwere Straftaten mit legalen Waffen begehen als zivile Waffenbesitzer. Das BKA schätzt außerdem dass wegen nachlässiger Leichenschau mehr als die Hälfte aller gewaltsamen Tötungen nicht als solche erkannt werden. Diese vielen Morde wurden sicher nicht mit Schusswaffen begangen, andernfalls wären sie wohl kaum übersehen worden. (Quelle)
Hier eine Tabelle der benutzten Waffen in Deutschland.
Waffenverbote dienen also nicht der Sicherheit der Menschen, sondern der Sicherheit der Regierung, denn ein entwaffnetes Volk ist erheblich leichter unter Kontrolle zu behalten als ein bewaffnetes. Aus diesem Grund haben die US-Verfassungsväter auch das Recht der Amerikaner auf eine Waffe festgeschrieben. Wilhelm Busch hat diese Erkenntnis in ein herrliches Gedicht verpackt:
Ganz unverhofft an einem Hügel begegneten sich Fuchs und Igel.
»Halt« rief der Fuchs, du Bösewicht!
»kennst du des Königs Order nicht?
Ist doch der Friede längst verkündet,
weißt du denn nicht, dass jeder sündigt,
der immer noch gerüstet geht?
Im Namen seiner Majestät,
geh her und übergib dein Fell.«
Der Igel sprach:
»Nur nicht so schnell.
Lass dir erst deine Zähne brechen,
dann wollen wir uns weiter sprechen!«
Also gleich zieht er sich rund,
schließt seinen dichten Stachelbund
trotzt so getrost der ganzen Welt,
bewaffnet, doch als Friedensheld!
Die Regierungen der westlichen Demokratien haben heute mit ihren Armeen die Möglichkeit, Völkern zu helfen, die von Tyrannen unterdrückt werden. Das ist doch etwas Gutes, und diese Möglichkeit gäbe es nicht mehr, wenn wir den Staat abschafften.
Der moralische Unterbau eines Angriffskrieges — selbst der zur Befreiung von Diktatoren — lautet auch: Der Zweck heiligt die Mittel. Ich werfe Bomben ab und töte damit unschuldige Zivilisten und Kinder, weil ich mit dem Sturz des Diktators ein höheres Ziel verfolge und somit mehr Leben zu retten erhoffe. »Töte einen, rette zehn«, lautet das Motto. Die unmittelbaren Wirkungen der Mittel sind dabei sicher — die Bomben werden größtenteils die Opfer des Diktators töten —, die mittelbaren Wirkungen sind aber immer unsicher. Selbst wenn der Diktator gestürzt ist, wird es den Überlebenden nicht unbedingt besser gehen. Das Verhältnis zwischen getöteten Zivilisten und Soldaten hat sich in den Kriegen des letzten Jahrhunderts auch dramatisch verschlechtert: Im ersten Weltkrieg gab es zehn Prozent zivile Opfer, im zweiten Weltkrieg schon fünfzig, in Vietnam siebzig, und im Irak sind es achtzig bis neunzig Prozent. Bei diesem Massensterben wird fast jeder Opfer in seiner Verwandtschaft und in seinem Freundeskreis beklagen, und so ist es nur verständlich, wenn bei den ehemaligen Opfern des Diktators jetzt Hass gegenüber dem neuen Angreifer entsteht. Genauso wird im Land des Angreifers Wut entstehen, denn nicht jeder werden mit dem Krieg einverstanden sein, aber alle werden mit zur Kasse gebeten. Ebenso wie sich das Verhältnis zwischen den zivilen und militärischen Opfern mit jedem Krieg weiter verschoben hat, so änderte sich auch das Verhältnis der Kosten für den Angreifer und den Verteidiger im letzten Jahrhundert erheblich. Mit fortschreitender Technik wird das Verteidigen im Verhältnis immer billiger und deshalb wird sich der Angreifer praktisch jedes Mal finanziell ruinieren, wenn er ein fremdes Land nicht nur zerstören, sondern einnehmen will. Das löst verständlicherweise Unmut im Land des Angreifers aus.
Auch auf die Gefahr zynisch zu klingen — muss man nicht auch die wirtschaftsbelebenden Effekte betrachten, wenn man die ökonomischen Folgen eines Krieges diskutiert?
Über diesen Mythos hat Frédéric Bastiat bereits im Jahr 1850 in seinem Essay »Ce qu’on voit et ce qu’on ne voit pas« (Das, was man sieht und das, was man nicht sieht) geschrieben. Henry Hazlitt hat die Gedanken über sichtbare und unsichtbare Kosten in seinem Buch »Economics in One Lesson« aufgegriffen und mit einer Parabel über ein zerbrochenes Fensterglas eines Bäckers erklärt:
Nachdem ein Vandale die Scheibe eines Bäckers eingeworfen hat, beginnen einige Gaffer über die ökonomischen Vorteile dieses Ereignisses zu philosophieren. »Die 250 Dollar, die so eine Scheibe kostet, kurbeln die Wirtschaft an. Der Glaser hat Einnahmen von 250 Dollar und wird diese vielleicht beim Schuster ausgeben. Jetzt hat der Schuster 250 Dollar zur Verfügung und kann diese wiederum woanders ausgeben. Das geht ewig so weiter und das Bruttosozialprodukt wird erheblich ansteigen.«
Natürlich wurde vergessen, dass der Glaser nach Abzug aller Kosten (Werkzeug, An- und Abfahrt, Glaseinkauf, Arbeit etc.) vielleicht nur noch 50 Dollar zur Verfügung hat. Wenn er mit dem Geld zum Schuster geht, hat der Schuster vielleicht noch 10 Dollar Gewinn und spätestens beim Metzger sind die Gewinne dann zu vernachlässigen. Bastiat und Hazlitt haben den Gedankenfehler der Gaffer jedoch besser erklärt: Man muss die Situation einfach aus der Sicht des Bäckers betrachten. Vor dem Vandalismus hatte er 250 Dollar und eine Scheibe. Nach dem Vandalismus und der Reparatur hatte er nur noch eine Scheibe. Vor dem Vandalismus plante er, einen 250-Dollar-Anzug bei seinem Schneider in Auftrag zu geben. Das geht jetzt nicht mehr. Die Gaffer haben also nur den Bäcker und den Glaser gesehen, aber nicht den Schneider, also nicht das, was mit dem Geld geschehen wäre, wenn es keinen Vandalismus gegeben hätte. Nach dem Vandalismus ist die Welt einfach um einen Anzug ärmer geworden. Der wird nämlich nie geschneidert. Die Menge der wirtschaftlichen Aktivität ist in beiden Fällen gleich: Im einen Fall hätte der Glaser 250 Euro Umsatz gemacht, im anderen der Schneider. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass das Geld mit Vandalismus verwendet wurde, um etwas zu ersetzen, und ohne Vandalismus wäre etwas Neues geschaffen worden.
Wenn also in einem Krieg für eine Billion Dinge zerstört werden, ist die Welt als Ganzes um eine Billion ärmer. Das Ankurbeln der Wirtschaft beim Wiederaufbau wäre sonst in neu zu produzierende Güter mit dem Wert einer Billion geflossen. Wäre es anders, müssten wir zum Bekämpfen einer weltweiten Wirtschaftsrezension ja einfach nur umherlaufen, Häuser anzünden, Autos demolieren und Fabriken in die Luft sprengen. Im Gegensatz zu einem Krieg blieben uns dann wenigstens die Toten und Verletzten erspart. Aber natürlich erkennt das jeder als Unsinn. Wenn ein Gewerkschafter heutzutage in einer Talkshow jedoch davon redet, dass zur Konjunkturbelebung die Binnennachfrage mit höheren Löhnen angekurbelt werden müsse, heult keiner im Publikum auf.
Es ist einfach die vorherrschende Meinung, auch in den Medien. Die New York Times soll als ein Beispiel von unzähligen dienen: »Wirtschaftswissenschaftler weisen darauf hin, dass Katrina zwar eine Menge akkumulierten Wohlstand vernichtet hat, aber im Endeffekt wird das wahrscheinlich einen positiven Effekt auf unsere Wachstumszahlen der nächsten Monate haben, während die Ressourcen gebündelt in den Wiederaufbau fließen.« (»Economists point out that although Katrina has destroyed a lot of accumulated wealth, it ultimately will probably have a positive effect on growth data over the next few months as resources are channeled into rebuilding.«) NYT 31.8.05
Auch wenn Keynes’ Theorie der antizyklischen Staatsinterventionen in der Fachwelt längst widerlegt ist, wird sie in der Presse und der Politik immer noch wie solides Grundlagenwissen behandelt. Nehmen wir an, dem Bäcker wäre nicht nur die Scheibe eingeworfen, sondern mit Ausnahme der Backstube der ganze Landen abgefackelt worden. Statt seinem Instinkt zu folgen und privat jetzt erst mal kleine Brötchen zu backen, würde Keynes’ volkswirtschaftliche Theorie auf seinen Einzelfall übertragen jetzt Folgendes fordern: Lasse dir ein paar Anzüge auf Kredit schneidern!
Wenn das extreme Ausgeben von Geld immer katalytische Funktion hätte, fragt man sich, warum sich die Regierung darauf beschränken sollte, das nur in Rezessionen und nur im Inland zu tun? Auf diese Weise müsste sich doch die ganze Welt retten lassen.
Wenn der Preis eines militärischen Eingriffes menschlich wie wirtschaftlich zu hoch ist, welche Lösung schwebt dann dem Voluntaristen vor, um ein fremdes Volk von seinem Diktator zu befreien?
Das Vorleben der einzigen Alternative des Zusammenlebens in Form einer voluntaristischen Gesellschaft ist die effektivste Lösung. Die Menschen in der Diktatur könnten einfach in das freie Land einwandern, dort leben und arbeiten. Die Integration von Ausländern wäre in einer Gesellschaft ohne Staat um ein Vielfaches unproblematischer. Da es keine Ansprüche auf Sozialhilfe gibt, würde die Allgemeinheit erstens nicht gegen ihren Willen finanziell belastet. Da es keine Regierung gibt, müssten die Einheimischen zweitens keine Angst haben, selbst zur Minderheit und dann irgendwann überstimmt zu werden. Und drittens müssten die Immigranten sich zumindest so weit integrieren (Sprache lernen, sich den Gepflogenheiten anpassen etc.), dass andere freiwillig für ihre Dienste zahlen.
Die produktivsten Arbeitskräfte würden von so einem freien Land am stärksten angezogen, und so stiege der Druck auf die anderen Länder sehr schnell, die Zügel auch lockerer zu lassen. Kein Diktator der Welt kann ein ganzes Volk gegen seinen Willen tyrannisieren. Die intellektuelle und moralische Entwicklung der Menschen ist also die stärkste Waffe gegen jede Form der Diktatur. Sicher, die Informationsbeschaffung in einer Diktatur ist schwieriger als in einem freien Land. Nur heute findet man selbst in so genannten freien Ländern zum Thema Politik, Wirtschaft und Philosophie nur kollektivistische Literatur, die vor zu großer Freiheit warnt. Wie soll dann das Volk in einem diktatorischen Staat den Schlüssel zu Wohlstand und Frieden entdecken? Es ist wie in der Erziehung: Prügeln und Predigen bringt gar nichts. Überzeugen kann nur die Philosophie, die man selbst lebt und die funktioniert, also Zufriedenheit erzeugt.
Apropos Warnung vor Freiheit. Mit einem staatlich unregulierten Markt verbinden die meisten Menschen die Zustände zur Zeit des Manchester-Kapitalismus: Verelendung, Ausbeutung, Hungerlöhne und Kinderarbeit. Das kann doch nicht unser Vorbild sein?
Es gibt ein Buch, das die öffentliche Meinung über den Manchaster-Liberalismus wahrscheinlich mehr geprägt hat als jedes andere Schriftstück, und das war »Die Lage der arbeitenden Klassen in England« von Friedrich Engels. Ein gutes Beispiel dafür, wie lange sich eine einmal fehlerhaft übernommene Informationen halten können, lieferte auch der Schweizer Gustav von Bunge, der 1890 den Eisengehalt von 100 Gramm Spinat mit 35 Milligramm angab. Generationen von Autoren haben diesen Wert einfach übernommen. Von Bunge hatte, anders als Engels, damit jedoch kein Ziel verfolgt. Er hatte den Eisengehalt richtig berechnet, aber seine Angaben bezogen sich auf getrockneten Spinat, und die wurden später irrtümlich frischem Spinat zugeschrieben, der zu etwa 90 Prozent aus Wasser besteht. Engels’ kommunistische Überzeugungen machten ihn jedoch zu keinem besonders geeigneten Geschichtsschreiber, wenn man sich eine objektive Darstellung der Wirtschaft wünscht.
Ja, es gab zu Beginn der Industrialisierung in der Zeit zwischen dem Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts unvorstellbares Elend, aber das lag nicht am Kapitalismus und an blutsaugenden Kapitalisten — im Gegenteil: Die Industrialisierung und dem Kapitalismus ebnete den Weg aus der Armut des Mittelalters, die sich durch die Bevölkerungsexplosion stark verschärfte. Von 1450 bis 1800 verdoppelte sich die Zahl der Menschen in Mitteleuropa, wobei sich das Reallohnniveau halbierte. Von 1800 bis 1900 hingegen verdoppelte sich die Zahl der Menschen noch mal, aber in dieser Zeit der Industrialisierung stiegen die Reallöhne um den Faktor 2,5.
Der Kapitalismus hat also nicht die Armut geschaffen, sondern er fand sie vor. Wenn sich dann in einer Stadt wie Manchester die Einwohnerzahl von 1750 bis 1830 mehr als verzehnfachte, lag das nicht daran, dass es den Menschen dort schlechter ging als auf dem Lande. Es ging den Menschen in Manchester in all dem Dreck, Gestank, Matsch und Gedränge natürlich nicht gut, aber sie zogen das Leben dort dem sicheren Hungertod auf dem Lande vor. Gleiches gilt für die Kinderarbeit: Wem will man Kinderarbeit als unmoralisch vorwerfen, wenn eine Familie ohne die Mitarbeit ihrer Kinder nicht überleben könnte? Wäre es ein Akt von Barmherzigkeit, wenn man in so einer Situation Kinderarbeit verböte? Beispiele von solchen Verboten in der dritten Welt zeigen, dass man die Kinder dann nur in illegale Arbeit mit noch schlechteren Bedingungen drängt oder sogar in die Prostitution, denn beides wird dem Verhungern verständlicherweise vorgezogen.
Wie der Arzt und Kritiker des Fabrikwesens Philipp Gaskel (»The manufacturing population of England«, London 1833) schrieb, hat sich die Lebensqualität der Menschen auch eher vermindert, als mit dem »Factories Regulation Act« die Kinderarbeit wesentlich eingeschränkt wurde. Die Ursache für die Armut lag in der mangelnden Produktivität, und die kann man durch Umverteilung nicht steigern. Der Weg aus der Armut führt über Arbeitsteilung und freien Handel. Industrialisierung und Kapitalismus erzeugen auch keine Schere, bei der die Armen immer ärmer und die reichen immer reicher werden. Das gilt heute genauso wie früher. Die Ursache liegt in der Struktur des derzeitigen Geldsystems (Fiat-Money).
Herrscht in einer völlig unregulierten Wirtschaft nicht ein gnadenloser Wettbewerb, in dem sich nur Skrupel- und Rücksichtslose durchsetzen? Wäre Kooperation nicht besser als Konkurrenz?
In der Wirtschaft kann man — anders als in der Politik — keinen Zwang anwenden. Keine Firma, und sei sie noch so groß, kann mich dazu zwingen, ein Produkt bei ihr zu kaufen oder für sie zu arbeiten. Wenn ich etwas kaufe, dann tue ich das, weil ich mir davon einen Vorteil verspreche. Bei jeder wirtschaftlichen Transaktion gibt es deshalb immer zwei Gewinner: Wenn ich mir für einhundert Euro ein Produkt kaufe, dann ist mir das Produkt mehr wert als meine einhundert Euro — sonst würde ich sie nicht dafür eintauschen. Dem Verkäufer sind die hundert Euro jedoch mehr wert als das Produkt, andernfalls würde er nicht tauschen. Genauso wenig gibt es Verlierer in Fabriken: Wenn ich mich dafür entscheide, zu einem geringen Lohn einen stupiden Job in einer Fabrik anzunehmen, dann ist mir diese Arbeit zu diesem Lohn offensichtlich lieber als alle Alternativen.
Bei dem so genannten knallharten Wettbewerb in der Marktwirtschaft konkurrieren die Menschen ohne Zwang und Gewalt ausschließlich darum, die Wünsche und Bedürfnisse der anderen Marktteilnehmer bestmöglich zu befriedigen. Konkurrenz und Kooperation sind keine Gegenpole, bei denen ich mich für das eine oder das andere entscheiden muss. Auf einem Markt konkurrieren die Teilnehmer darum, miteinander kooperieren zu dürfen. Aldi und Tchibo konkurrieren darum, mit mir zu kooperieren. Beide möchten, dass ich einer ihrer regelmäßigen Geschäftspartner werde und zum Beispiel Telefonkarten bei ihnen kaufe. Aldi und Tchibo konkurrieren auf der anderen Seite auch um Netzbetreiber als Kooperationspartner.
Wir haben gar keine andere Wahl, als miteinander zu konkurrieren, denn einerseits sind die menschlichen Bedürfnisse grenzenlos, weil sich das Leben immer weiter verbessern lässt, und andererseits sind die Ressourcen auf unserem Planeten begrenzt, also knapp. Die einzige Wahlmöglichkeit die wir haben, besteht darin, friedlich oder mit Gewalt zu konkurrieren. Beim Stichwort Gewalt fällt einem als erstes Diebstahl, Raub und Betrug ein. Da sind sich jedoch alle einig, dass diese Methoden unterbunden werden müssen. Vergessen wird jedoch, dass Politik auch nichts anderes ist als Gewalt. Der Staat hält sich friedliche Konkurrenz beispielsweise mit Gewalt vom Leib, indem er die Menschen zum Erwerb seiner Produkte schlichtweg zwingt. Beispiel: gesetzliche Krankenversicherung oder Altersvorsorge. Dieser Zwang geschieht jedoch keinesfalls zum Vorteil der Menschen: Dürfte man sich privat versichern, könnte man viel passendere und erheblich günstigere Produkte finden.
Eine andere Methode nutzt der Staat, wenn er Konkurrenz schlichtweg verbietet, so zum Beispiel beim Glücksspiel. Lotto ist ein riesiges Geschäft und für private Anbieter illegal.
Eine dritte Methode des Staates kaschiert Zwang und Gewalt noch besser: Er bietet manche Produkte vermeintlich kostenlos oder konkurrenzlos günstig an: Kindergärten, Schulen und Universitäten. Der Trick besteht darin, über die Steuern einfach alle Menschen an den Kosten zu beteiligen, egal ob sie die Leistungen nutzen oder nicht. Wer private Angebote nutzen will, muss nun doppelt bezahlen — und das ist natürlich unlauterer Wettbewerb.
Aber wir wollen damit doch nur Ungerechtigkeiten vermeiden, die entstünden, wenn man den Markt sich selbst überließe. Es kann doch niemand bestreiten, dass es bei einem ganz freien Markt immer einzelne Fälle gäbe, in denen unzumutbare Härten aufträten.
Wenn wir diesen Gedanken einmal von aller Schminke befreien, dann bleibt Folgendes übrig: Weil wir Freiwilligkeit und friedlichen Methoden misstrauen, nutzen wir Zwang und Gewalt — und damit hoffen wir Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Zwang und Gewalt bringen jedoch immer neue Ungerechtigkeiten hervor. Dazu ein Beispiel: Ist es nicht ungerecht, dass manche Menschen auf dem Heiratsmarkt riesige Vorteile gegenüber anderen haben? Wie sollen Mädchen mit Buckel, Hängebrüsten und Hasenscharte mit Angelina Jolie oder Halle Berry konkurrieren? Müsste der Staat hier nicht auch für Chancengleichheit sorgen? Die hässlichen Mädchen werden sich lebenslang mit den Hollywoodschönheiten vergleichen, und sicher wird es Fälle geben, in denen sich Mädchen aus Verzweiflung umbringen. Da ließen sich sicher einige Selbstmorde verhindern, wenn man die äußerlich Benachteiligten vor der gnadenlosen Konkurrenz schützte. Analog zum Jugendschutzgesetz gäbe es dann ein Gesetz zum Schutz der äußerlich Benachteiligten. Verbote wären denkbar, die zu attraktive Frauendarstellungen auf den Titelseiten der Magazine untersagen — Gleiches hätte in Film und Fernsehen zu gelten. Im Interesse des Gemeinwohls könnte man Männer mit Hilfe eines Diskriminierungsverbotes für unattraktive Frauen auch zu einer Quotenregelung verpflichten: Wer zwanzig Jahre mit einer besonders attraktiven Frau verheiratet war, der muss die nächsten zwanzig Jahre mit einer äußerlich benachteiligten Frau verbringen, andernfalls drohen Zwangsausgleichszahlungen in die Staatskasse, deren Höhe sich danach bemisst, wie weit über der durchschnittlichen Attraktivität die eigene Ehefrau liegt.
Um die Frauenrechtlerinnen gleich zu beruhigen: Alles Gesagte gilt natürlich auch umgekehrt. Die Benachteiligung eines Karl Dall gegenüber Menschen wie George Clooney und Richard Gere schreit ebenso nach staatlicher Intervention zur Herstellung von Chancengleichheit. Das Ganze erinnert an eine Szene in der Sesamstraße, in der Ernie versucht, Ungleichheit zu vermeiden und Gerechtigkeit herzustellen.
Um noch einmal auf die Frage zurückzukommen: Ja, es ist richtig, dass es in einer freien Gesellschaft Fälle gäbe, in denen unzumutbare Härten aufträten. Wer jedoch den Status Quo immer mit der Bemerkung verteidigt, dass die Alternativlösung auch nicht den Himmel auf Erden beschert, der unterliegt dem, was der Wirtschaftswissenschaftler Harold Demsetz »nirvana fallacy« genannt hat: Man vergleicht Verbesserungsvorschläge mit dem Nirvana und lehnt die Alternative wegen der Nachteile im Vergleich zum Paradies ab. Dass die Alternative aber vielleicht eine erhebliche Verbesserung der derzeitigen Situation geschaffen hätte, wird dabei entweder vergessen oder bewusst übersehen. Was auch gerne vergessen wird, ist Folgendes: Der derzeitige Zustand kann nicht als Vergleichsmaßstab dienen, weil er sich nicht aufrecht erhalten lässt. Alle Staaten verschulden sich extrem und verschenken Wohlstand auf Kosten der Zukunft. Wir müssten also zum Vergleich mit alternativen Gesellschaftsformen die Geschenke des jetzigen Wohlfahrtsstaates um die Menge der Schulden reduzieren. Wenn man jeder Familie ein paar hunderttausend Euro wegnähme, sähe unsere derzeitiges Gesellschaftssystem nicht mehr so rosig aus. Die implizite Staatsschuld auf Familien umgerechnet ergibt tatsächlich so einen Betrag.
Anderes Thema: Geld. Wer druckt und verwaltet in einer Gesellschaft ohne Staat eigentlich die Geldnoten und Münzen?
In allen Wirtschaftsbereichen nützen Monopole nur den Monopolisten und schaden dem Volk. Das ist beim Münzprägerecht nicht anders. Um die Zusammenhänge wirklich zu durchschauen, muss man verstehen, wie Geld funktioniert. Sobald die meisten Menschen jedoch das Wort Finanzpolitik hören, verdrehen sie die Augen und überlassen das Feld den so genannten Experten. Wer nichts weiß, muss alles glauben, und so haben die Vorsitzenden und Pressesprecher der Zentralbanken leichtes Spiel, wenn sie in ihren Presseberichten oder Interviews den grundsätzlichen Betrug ihrer Behörden verschleiern. Sollte der seltene Fall eintreten, dass ein Journalist einmal eine unangenehme Frage stellt, werden einfach mittels einiger unverständlicher Fachbegriffe ein paar Nebelkerzen gezündet und schon verlieren alle Zuhörer die Orientierung und das Interesse. Hier deshalb eine Schnelleinführung in das Geldsystem:
Bevor es Geld gab, haben die Menschen ihre Produkte miteinander getauscht. Der Jäger bot dem Sammler vielleicht ein viertel Schwein gegen einen Sack Nüsse oder getrocknete Beeren. Das Tauschen hatte jedoch gravierende Nachteile: Manche Objekte ließen sich nicht so einfach teilen wie ein Schwein. Nehmen wir an, der Jäger hatte in langer Handarbeit einen seltenen Faustkeil zurecht geklopft und wollte den gegen ein paar Vogeleier und einen Lendenschurz tauschen. Jemand der genau das besaß und gerade einen Faustkeil brauchte, war kaum zu finden, also musste man indirekt tauschen: das heißt, erst einen Sack Nüsse ertauschen und dann damit die Eier und den Lendenschurz. Bei dieser Art der Wirtschaft wird sich früher oder später eine Ware als Tauschmittel durchsetzen. Wichtig dabei ist, dass die Ware schon in kleinen Mengen wertvoll ist, andernfalls müsste man immer riesige Gewichte mit sich herumschleppen. Die Ware sollte nicht verderblich sein und ohne Wertverlust teilbar. Faustkeile und Nüsse bieten sich deshalb nicht an. In der langen Geschichte der Tauschwirtschaft experimentierten die Menschen mit Salz, Getreide, Tabak, Glasperlen, Muscheln und vielem anderen mehr. Auf Dauer stellte sich aber heraus, dass sich Gold, Silber und Kupfer am besten eigneten. Mit dieser Art Geld entstanden auch Preise. Man musste den Wert des Faustkeils nicht in allen anderen Waren ausdrücken (35 Vogeleier oder 7 Lendenschurze und so weiter), sondern einfach in der gängigen Tauschware zum Beispiel: zwei Säcke Salz oder eben eine Münze Silber. Mit dieser Art von Marktpreisen war die Grundlage für eine effiziente Arbeitsteilung und für Wirtschaftlichkeitsrechnungen geschaffen.
Ganz automatisch entstanden irgendwann die ersten privaten Banken. Wer zum Beispiel mehr Gold besaß, als er im Alltag brauchte, der wollte es sicher aufbewahrt wissen. Außerdem ließen sich größere Mengen Silber oder Gold nur schwer transportieren. Es bot sich also an, sein Gold und Silber in sicheren Lagerhäusern zu deponieren. Man bekam dafür ein Lagerschein, und das war gleichsam die Geburt des Papiergeldes. Jetzt konnte man seinen Handelspartnern statt der Münzen einfach den Lagerschein geben. Wenn das Lagerhaus einen guten Ruf hatte, weil man sich darauf verlassen konnte, dass man für den Schein jederzeit wieder sein Gold bekam, war der Schein praktisch so gut wie Gold. Der Goldbesitzer wird dem Lagerhausbesitzer eventuell auch gestattet haben, sein Gold zu verleihen, wenn er eine Weile auf seine Münzen verzichten konnte. So warf die Einlagerung sogar Zinsen ab.
Die Höhe der Zinsen ergab sich wie in jedem Markt durch Angebot und Nachfrage. Wenn die Leute viel sparten, und es ein großes Geld-Angebot gab, waren die Zinsen eher niedrig. Wenn die Leute weniger sparten oder die Nachfrage nach Geld groß war, stiegen die Zinsen. Das hatte einen beruhigenden Effekt auf den Markt. Um das erklären zu können, muss man etwas ausholen:
Eine Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass das Angebot an Waren gut zu der Nachfrage passt. Gibt es zu viele Waren, wird Arbeit, Geld und Energie verschwendet, um Dinge zu produzieren, die nachher keiner kauft. Gibt es zu wenige Waren, entsteht ein Mangel und den Leuten fehlt es an Dingen, die sie eigentlich gerne hätten und sich auch leisten könnten. Beides ist unbefriedigend und nur wenn in einer Gesellschaft Angebot und Nachrage gut zueinander passen, arbeitet sie effizient. Dass ein Komitee mit der Frage, was und wie viel produziert werden soll, völlig überfordert ist, wissen wir spätestens seit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Der Markt mit seinem Selbstregelungsmechanismus über Preise ist hier ein weit überlegenes Instrument. Produziert die Wirtschaft zu viele Waren, sodass das Angebot die Nachfrage übersteigt, sinken die Preise und es wird weniger produziert. Sinkt das Angebot zu weit ab, steigen die Preise; die machen es rentabler, mehr zu produzieren, und so wird das Angebot wieder steigen. In kleinen Wellenbewegungen wird sich dieses System immer ausgleichen. Diese Wellenbewegungen entstehen zum Beispiel dann, wenn neue Erfindungen auf den Markt kommen. Betrachten wir den letzten Internetboom: Die ersten Anbieter gründeten mit teilweise sehr guten Ideen Firmen und verdienten bei deren Verkauf mitunter ein Vermögen, auch weil sie anfangs kaum Konkurrenz hatten. Das zog weitere Anbieter an, die auch mit Internetangeboten reich werden wollten. Je mehr Nachahmer jedoch auf den Markt drängten, desto geringer wurden die Gewinnspannen, und irgendwann wurden die Überkapazitäten von einer Korrekturphase erwischt. Ist ein Boom besonders groß, wird die Korrektur entsprechend scharf. Dass diese Wellenbewegungen auf einem unregulierten Markt aber nicht zu groß werden, verhindert auch der Zins, der genau wie die Produktpreise für einen Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage sorgt. Wenn die Menschen optimistisch in die Zukunft blicken, geben sie ihr Geld eher aus, als es zu sparen. Wird jedoch wenig gespart, ist das Geldangebot auf dem Kapitalmarkt eher gering, was die Zinsen auf ein hohes Niveau hebt. Hierdurch wird die Wirtschaft davon abgehalten, gleichsam heiß zu laufen und immer mehr zu investieren und zu produzieren. Je teurer nämlich das Geld, desto vorsichtiger werden die Unternehmer. Umgekehrt: Wenn die Menschen aus Angst vor einer düsteren Zukunft gar nichts mehr kaufen und nur noch sparen, werden die Zinsen durch das große Kapitalangebot auf dem Geldmarkt immer geringer. Das macht neue Investitionen schneller rentabel und die Unternehmen können günstige Produkte anbieten. Gleichzeitig werden die immer geringeren Zinsen die Leute davon abhalten, noch sparsamer zu werden, denn das Sparen lohnt sich dann kaum noch. So sorgt auch der Geldmarkt mit dem Zins als seinem Preissystem für eine Selbstregulierung.
Aber warum kommt es in unserer Marktwirtschaft zu so extremen Auf- und Abschwüngen?
Eine reine Marktwirtschaft hätte nur sehr leichte Schwankungen. Es gäbe ein gesundes, langfristiges Wachstum, das realtiv geradlinig verliefe, eben genau wegen der gerade erklärten selbstregulativen Elemente der Güterpreise und des Geldpreises, also des Zinses. Starke Schwankungen treten auf, wenn es Übertreibungen gibt, die der Markt zwangsläufig irgendwann korrigiert. Solche Übertreibungen entstehen, wenn Geld falsch investiert wird, also entgegen der eigentlichen Nachfrage. Im großen Stile passiert das jedoch nur, wenn die Geldmenge künstlich stark aufgebläht wird. Ist das der Fall, will das viele neue Geld irgendwo angelegt werden. Wenn alle rentablen Anlagemöglichkeiten ausgeschöpft sind, fließt das Geld in weniger rentable Geschäfte und irgendwann in unrentable.
Eine immer stärker wachsende Geldmenge mit zwangsläufigen Preissteigerungen zwingt außerdem alle Arbeitnehmer in die Rolle von Hobby-Investoren. Wenn die Geldmenge jedes Jahr stärker wächst als die Produktivität, ist es nicht sehr clever, sein Sauerverdientes zu Zinsen auf ein Sparbuch zu legen, die so niedrig sind, dass die Differenz zwischen Produktivität und Erhöhung der Geldmenge dadurch nicht ausgeglichen wird. Ein Beispiel soll das Verständnis des letzten Satzes erleichtern:
Nehmen wir an, die Wirtschaft würde um 3 Prozent wachsen, die Regierung die Geldmenge aber um 11 Prozent erhöhen. Wenn das Geld auf einem Sparkonto aber nur 4 Prozent Zinsen brächte, hätte man immer noch einen Kaufkraftverlust von 4 Prozent (3 - 11 + 4 = -4). Das eigene Geld muss also mindestens 8 Prozent pro Jahr erwirtschaften, um lediglich den Wert des Geldes zu erhalten. Da jede Anlage natürlich auch ein gewisses Risiko birgt und man sein Vermögen nicht nur erhalten, sondern es auch vergrößern möchte, braucht man deutlich höhere Renditen. Also werden für den Bürger riskante Spekulationen an der Börse interessant.
Bei einer hohen Inflation und niedrigen Zinsen wächst andererseits der Anreiz, sich zu verschulden, statt zu sparen. Das war auch einer der Gründe für die derzeitige Immobilienkrise in den USA: Wegen der großen Geldmengen, lockerte man die Voraussetzungen für Kredite und so bekam fast jeder eine Hypothek, auch wenn verfügbares Einkommen und Eigenkapital für eine solide Finanzierung viel zu gering waren. Da immer mehr Menschen als Nachfrager auf dem Häusermarkt auftraten, stiegen die Immobilienpreise schnell und lange. Sobald die eigene Immobilie auf dem Papier deutlich gestiegen war, schöpften viele den damit gestiegenen Kreditrahmen erneut aus, um sich nun auch noch schöne Urlaube, ein neues Auto und andere Konsumgüter zu leisten. Natürlich kann man nicht ewig über seine Verhältnisse leben — auch eine ganze Nation nicht. Sobald die ersten Fehlinvestitionen sich als solche herausstellen, begann eine langsame Kettenreaktion: Es platzen einige Finanzierungen, das Angebot auf dem Immobilienmarkt steigt, die Immobilienpreise sanken, dadurch platzen weitere Finanzierungen, die Nachfrage nach Häuserbaufirmen sank ebenso, dadurch werden viele ihren Arbeitsplatz verlieren und dann platzen weitere Kredite und so weiter. Die primäre Ursache hinter dieser ganzen Misere ist jedoch die aufgeblähte Geldmenge und die künstlich niedrig manipulierten Zinsen.
Wie kommt es denn zu den großen Geldmengen?
Was das Geldwesen angeht, kann man heute leider nicht mehr behaupten, dass wir in einer Marktwirtschaft leben. Es handelt sich vielmehr um eine reine Planwirtschaft, in der die Zinsen nicht demokratisch von allen Marktteilnehmern durch Angebot und Nachfrage bestimmt werden, sondern ein Komitee in der Zentralbank diese willkürlich festgelegt. Dieses Komitee entscheidet genauso willkürlich über die Geldmenge, indem es einfach so viel Geld für die Regierung drucken lässt, wie diese es gerade für richtig hält. Einen ganz entscheidenden Einfluss auf die Geldmenge hat auch das so genannte Teilreserve-Bankwesen. Um zu verstehen, was das ist, kommen wir zu unserem Lagerhausbesitzer zurück:
Die Lagerhausbesitzer hatten bis jetzt zwei Einkommensquellen:
  1. Goldbesitzer, die ihre Münzen und Barren nur sicher verwahrt wissen wollten, mussten eine Lagergebühr bezahlen.
  2. Die Goldbesitzer, die bereit waren, auf ihr Gold eine bestimmte Zeit lang zu verzichten, ermöglichten den Lagerhausbesitzern eine zusätzliche Einnahmequelle. Der Lagerhausbesitzer — wir nennen ihn jetzt Bankier — konnte das Gold gegen Zins an Investoren verleihen. Der Großteil des Zinses ging an den eigentlichen Besitzer des Goldes, aber einen gewissen Aufschlag als Vermittlungsgebühr konnte der Bankier mit Recht für sich behalten.
Die Bankiers kamen jedoch immer in die Versuchung, eine dritte Einnahmequelle zu nutzen: Da nie alle Leute gleichzeitig ihr ganzes Gold abhoben, das eigentlich nur zur Aufbewahrung abgegeben wurde, fiel es nicht auf, wenn der Bankier einen Teil dieses Goldes verlieh, das eigentlich nicht hätte verliehen werden dürfen. Man spricht hier vom Teilreserve-Bankwesen, weil die Bank in diesem Fall nur noch einen Teil der Einlagen als Reserve für Abhebungen besitzt. Beim Verleih dieses Goldes konnte der Bankier natürlich den vollen Zins für sich behalten, da der Einleger nichts von dem Verleih wusste. Es ging den Einlegern wie den heutigen Girokonto-Nutzern: Auch die glauben, dass ihr Geld sicher in der Bank aufbewahrt wird und sie es jederzeit abheben können. Wenn jedoch zu viele Girokonto-Besitzer ihr Geld gleichzeitig abheben wollen, zum Beispiel wegen einer Krise, reicht die Reserve der Bank bei weitem nicht aus. Heute ist das Teilreserve-Bankwesen sogar legal und die Mindestreserve liegt in der Regel bei lediglich zehn Prozent. Eine Bank, die von diesem Vorteil kein Gebrauch machen würde, wäre nicht konkurrenzfähig. Die Banken brauchen vor einem Ansturm ihrer Anleger auch keine allzu große Angst haben — und zwar aus folgendem Grund: Stellen wir uns vor, es gäbe einen Ansturm auf eine größere Bank und mit der üblichen Teilreserve käme es zu einem Bankrott, was den Vermögensverlust fast aller Anleger zur Folge hätte. In so einem Fall würden Anleger aller anderen Banken sicher auch ihr Geld abziehen wollen, und dann käme es bald zu einer nationalen oder sogar internationalen Bankenkrise. Also haben die Gemeinschaft der Banken und die Zentralbank ein großes Interesse daran, dass nie eine Bank in Zahlungsschwierigkeiten gerät. Droht ein Bankrott, werden die Gemeinschaft und die Regierung aushelfen. Da die Regierung selbst kein Geld verdient, hilft eigentlich der Steuerzahler aus. In einer Umgebung, in der eine Pleite deutlich an Bedrohung verloren hat, sinkt natürlich die Vorsicht, und es werden Kredite vergeben, die nie vergeben werden dürften. Der Fachbegriff hierfür lautet: »moral hazard.«
Wie stark erhöht sich denn die Geldmenge durch das Teilreserve-Bankwesen?
Das hängt von der Mindestreserve ab. Wir unterstellen in diesem Beispiel eine Mindestreserve von zehn Prozent, weil das in der heutigen Praxis der gängige Wert ist.
Eine Bank bekommt eine Einlage von 100 Euro. Sie darf nun 90 Euro verleihen. Bezahlt der Kreditnehmer mit diesem Scheck dann eine Rechnung und reicht der Rechnungssteller den 90-Euro-Scheck bei seiner Bank ein, kann die wiederum 81 Euro verleihen (90 minus 10 Prozent von 90). So geht es dann endlos weiter (€ 100 + € 90 + € 81 + € 72.90 + … ) und die Summe, die wie von Zauberhand aus den 100 Euro entsteht Zahl nähert sich 1000 Euro an.
Warum ist das Teilreserve-Bankwesen legal, wenn es so viele Nachteile hat?
Die so genannte Laffer-Kurve, benannt nach dem Ökonomen Arthur B. Laffer, beschreibt den Zusammenhang zwischen Steuersatz und Steuereinnahmen: Wird der Steuersatz von null an erhöht, steigen die Steuereinnahmen — allerdings nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wird der Steuersatz über diesen Punkt hinaus weiter in Richtung einhundert Prozent erhöht, nehmen die Steuereinnahmen wieder ab, denn die Leute werden immer weniger arbeiten. Bei einem Steuersatz von hundert Prozent wird niemand mehr arbeiten.
Das Maximum der Steuereinnahmen lässt sich mit zunehmender Gewöhnung sicher immer weiter erhöhen, aber jenseits der fünfzig Prozent wird es schwierig, dem Volk mehr Geld abzupressen. Früher hatten selbst Könige Mühe, den Untertanen mehr als den zehnten Teil ihrer Einnahmen abzunehmen. Der Staat leidet notorisch unter Geldmangel, weil er selbst kein Geld verdient und deshalb muss er ständig nach neuen Einnahmemöglichkeiten fahnden. Die unauffälligste Einkommensquelle, die er bis heute gefunden hat, ist das Drucken von Geld. Kaum jemand weiß zum Beispiel, dass die europäische Zentralbank die Geldmenge derzeit um elf Prozent pro Jahr erhöht. Was bedeutet das? Eine steigende Geldmenge schafft eine zusätzliche Nachfrage. Die Gütermenge also das Angebot ist jedoch gleich geblieben und dadurch steigen die Preise. Das Teilreserve-Bankwesen hat den gleichen Effekt: Es kommt mehr Geld in Umlauf, ohne dass die Gütermenge steigt, und auch hierdurch steigen die Preise.
Es war jedoch nicht ganz einfach, die Menschen daran zu gewöhnen, dass ihr Geld immer weniger wert wird. Heutzutage halten wir es für Gottgegeben, dass Preise ständig steigen. Widerstand regt sich erst, wenn die Preissteigerungen zu extrem werden. Dieser Zustand ist aus Sicht des Staates und der Banken paradiesisch; um ihn herzustellen, bedurfte es jedoch vieler Einzelschritte: Zuerst musste das freie Geld in Form von Gold- und Silbermünzen verstaatlicht werden. Angeblich zum Schutz vor Falschmünzern hat der Staat das Münzprägerecht an sich gezogen und seine Münzen zum gesetzlichen Zahlungsmittel gemacht. Die Annahmepflicht eines gesetzlichen Zahlungsmittels zwingt jeden Gläubiger, Tilgungen mit staatlichen Geld zu akzeptieren. Deshalb wird dann niemand mehr mit wertvollerem Geld bezahlen. Tatsächlich hatten die Herrschenden mit ihrem Monopol so ein viel leichteres Spiel, ihre Münzen mit immer mehr Fremdmetall zu entwerten — man musste sie schließlich akzeptieren. Früher oder später wurde der Betrug immer zu extrem, und es kam zu einer Währungsreform. Um den Himmel auf Erden für Staat und Banken in Form von reinem ungedeckten Zwangs-Papiergeld zu verwirklichen, musste man die Menschen noch von der Vorstellung entwöhnen, dass Gold und Silber Geld sind. Das geht nicht in einem Schritt. Man entmonetarisierte also zunächst das Silber, indem man den Wechselkurs zwischen Gold und Silber künstlich festlegte. In England fixierte man beispielsweise gegen Ende des 18. Jahrhunderts das Verhältnis von Gold zu Silber auf 1 zu 15,2. Auf dem freien Markt in Europa betrug das Verhältnis jedoch 1 zu 15. Es lohnte sich also, Gold nach England zu exportieren und Silber aus England zu importieren. Auf diese Weise floss innerhalb kürzester Zeit praktisch das ganze englische Silber ins Ausland. 1816 hatte man dann in England einen reinen Goldstandard. Der Preis für Gold war jetzt nicht mehr eine bestimmte Menge Silber, sondern wurde gemessen an einem Stück Papier, dem Pfund. Danach muss man die Golddeckung der Geldscheine nur noch immer weiter reduzieren und irgendwann ganz aufheben, so geschehen 1971 — und zwar weltweit. Seitdem können die Regierungen so viel Geld drucken wie sie wollen, so lange die Menschen nicht auf die Straße gehen.
Kommt es dann nicht zu einer Inflation?
Diese Frage impliziert ein fehlerhaftes Verständnis von Inflation: Inflation ist nicht die Preissteigerung. Inflation (Lateinisch: »das Sich-Aufblasen«) ist alleindie Aufblähung der Geldmenge. Die Preissteigerung ist nur eine Folge der aufgeblähten Geldmenge. Dieses fehlerhafte Verständnis kommt jedoch nicht von ungefähr, sondern es wurde gezielt verbreitet, um den Betrug mit dem Papiergeld besser zu kaschieren. Definiert man Inflation als Preissteigerung, wird die daraus resultierende Zahl erheblich kleiner ausfallen. Wenn die europäische Zentralbank die Geldmenge M3 von 8,6 Billionen um 11 Prozent erhöht, dann erhöht sie die Einkommen der europäischen Regierungen um 946 Milliarden Euro. Bei 310 Millionen Europäern sind das 3050 Euro pro Kopf oder 12.200 Euro bei einer vierköpfigen Familie. Diese Zahlen findet man jedoch nur sehr versteckt auf der Internetseite der europäischen Zentralbank. Drängen diese Fakten ins Bewusstsein der Menschen und würde man die Inflation korrekt mit dem Geldmengenwachstum angeben, könnte das großen Unmut bei den Menschen auslösen. Da redet man doch lieber von der Preissteigerung. Die fällt nämlich aus mehreren Gründen viel geringer aus:
  1. Die Produktivitätssteigerung vermindert die Preissteigerung.
  2. Man kann beim Warenkorb schummeln, der die Preissteigerung misst.
  3. Man kann die ins Ausland abfließenden Euros abziehen.
  4. 1. Abziehen der Produktivitätssteigerung
    Wir werden immer produktiver und erzeugen jedes Jahr mehr Waren, in Europa knapp drei Prozent. Würde man die Geldmenge nun genau um den gleichen Anteil erhöhen, blieben das Verhältnis von Geld- zu Warenmenge gleich und damit die Preise unverändert. Hätte man die Geldmenge jedoch unverändert gelassen, wäre die Kaufkraft um knapp drei Prozent gestiegen, das heißt, das Geld hätte an Wert gewonnen. Inflation, also Geldmengenerhöhung stiehlt den Menschen immer Geld, auch wenn die Produktivität steigt und die Preise konstant bleiben.
    2. Schummeln beim Warenkorb
    Um die Preissteigerung zu messen, wird ein imaginärer Warenkorb zusammenstellt und jedes Jahr berechnet, um wie viel teurer, die darin befindlichen Produkte geworden sind. Die Zusammenstellung und Gewichtung der darin enthaltenen Produkte ist natürlich ziemlich willkürlich. Die Warenkörbe werden in allen Ländern von einer Regierungsbehörde zusammengestellt. Die Regierung ist jedoch daran interessiert, eine niedrige Inflation auszuweisen. Es liegt also ein Interessenkonflikt vor, und es ist ein leichtes, einfach die Produkte, die günstiger werden (Computer, Videokameras, Fernseher etc.) stärker zu gewichten und die Produkte, die viel teurer werden (Lebensmittel, Rohstoffe, Aktien) geringer zu gewichten — oder wie im Falle von Aktien, gar nicht mit in den Warenkorb zu nehmen.
    3. Das zusätzlich gedruckte Geld fließt ins Ausland
    In den letzten Jahren haben die Zentralbank in den USA (Fed) und die europäische Zentralbank die Geldmengen erheblich ausgeweitet. Die Preissteigerungen blieben jedoch — auch korrekt gemessen — vergleichsweise gering, wenn man von der Börsen und den Immobilien in den USA einmal absieht. Wie kann das sein? Das Geld wurde teilweise vom Ausland aufgesogen. Der amerikanische Dollar ist nun mal die Leitwährung der Welt, und die internationalen Exporteure fühlten sich nicht unwohl, wenn sie ihre Waren verkauften und dafür Dollar erhielten. Allein die Chinesen besitzen inzwischen eine Billion US-Dollar. Wenn die Chinesen diese Dollar irgendwann verkaufen sollten, würden die Preise in den USA so stark in die Höhe schnellen, dass sich die Inflation nicht länger verbergen ließe. In Europa fanden viele der zusätzlichen Euro durch die Öffnung des Ostblocks eine neue Heimat. Irgendwann ist jedoch auch der Markt im Ausland gesättigt und dann schlägt auch bei uns die Teuerung gnadenlos zu. Und auch hier darf man nicht vergessen, dass ohne Geldmengenausweitung bei gleichen Bedingungen unser Geld an Kaufkraft erheblich gewonnen hätte.
    Ein weiterer unangenehmer Nebeneffekt der Inflation ist die so genannte kalte Progression. Stellen wir uns vor, es gäbe über einen Zeitraum von 7 Jahren eine addierte Inflation von 100 Prozent. Stellen wir uns weiter vor, einem Angestellten gelänge es, sein Gehalt in der selben Zeit zu verdoppeln, die Inflation also komplett auszugleichen und mit seinem Nettogehalt immer noch die gleiche Kaufkraft zu genießen. Doch weil er jetzt das Doppelte verdient, muss er wegen der Progression nicht nur absolut, sondern auch prozentual mehr Steuern zahlen.
    Beispiel: Zu Beginn verdient der Angestellte 2000 Euro und zahlt 25 Prozent Steuern (500 Euro), darf also 1500 Euro netto für sich behalten. Nach sieben Jahren und 100 % Inflation verdient er nun 4000 Euro brutto. Hier muss er 35 Prozent Steuern zahlen, also 1400 Euro. Es bleiben ihm netto 2600 Netto, deren Kaufkraft ist jedoch nur noch halb so groß. Er verdient also in der Kaufkraft vor sieben Jahren ausgedrückt nur noch 1300 netto. Die kalte Progression hat ihn also um weitere 200 Euro beraubt.
    Die amerikanische Regierung hat das Veröffentlichen der Geldmenge M3 im März 2006 einfach eingestellt. Angeblich sei die Zahl wenig aussagekräftig. Die amerikanische Seite shadowstats.com hat den Verbraucherpreisindex einfach mal so weiter berechnet, wie die Regierung es noch vor Clinton getan hat. Da sieht man dann, dass die neuen Rechenmethoden des amerikanischen Arbeitsministeriums die Teuerungsrate fast halbiert von knapp unter 8 Prozent auf offiziell etwas über 4 Prozent. Der Trick bestand einfach darin, den Warenkorb »geometrisch zu gewichten«, indem man Produkte, die sehr viel teurer geworden sind, einfach geringer gewichtet, und Produkte die sich nicht so sehr verteuert haben, höher gewichtet. Die Erklärung von Alan Greenspan lautete: »Wenn Steaks teurer werden, essen die Leute mehr Hamburger.
    Braucht eine schnell wachsende Wirtschaft nicht eine flexible Geldmenge und werden sich die Menschen bei einer permanenten Deflation nicht zu Tode sparen?
    Wir müssen bei diesen Fragen nicht spekulieren; es liegen schließlich empirische Daten vor: Zwischen 1820 und 1913 betrug die Verbraucherpreisinflation in den USA null Prozent, und im Vereinigten Königreich sanken die Verbraucherpreise gar, wenn man die 139 Jahre von 1800 bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs betrachtet. In dieser Zeit ist die Wirtschaft natürlich auch gewachsen.
    Auch wenn die Preise fallen, spart sich niemand zu Tode. Jeder kann das bei elektrischen Geräten (Computer, Mobiltelefone, Fernseher, Spielkonsolen) an sich selbst beobachten: Die werden immer billiger und immer besser. Trotzdem kaufen wir uns natürlich natürlich diese Produkte.
    Wie schon weiter oben erklärt, wirkt der Markt auch hier stabilisierend: Wenn viele Menschen Geld sparen, fallen die Zinsen; die Firmen kommen günstiger an Geld für ihre Investitionen und können ihre Produkte günstiger anbieten. Das wiederum wird die Konsumenten motivieren, mehr zu konsumieren.
    Wieso sind diese Zusammenhänge völlig unbekannt?
    Mit Währungsfragen befassen sich hauptsächlich Volkswirtschaftler. Die sind jedoch fast ausschließlich Staatsangestellte und entweder bei Zentralbanken und ähnlichen Behörden angestellt oder als Professoren im Dienst von Universitäten. Und Professoren bekommen oft Forschungsaufträge von Währungsbehörden, mit denen sie sich profilieren können. Wer in der akademischen Welt die hier vorgetragene Haltung verträte, würde seiner Karriere empfindlich schaden.
    Welche Wirkungen hat die Inflation denn auf die Menschen?
    Bei der Entwicklung der Menschen scheint es für Erfolg und Zufriedenheit einen ganz entscheidenden Charakterzug zu geben, der in einer Inflationsgesellschaft erodiert oder sich gar nicht erst richtig entwickelt: Beim Marshmallow-Test wurden Vierjährige auf ihre Selbstbeherrschung untersucht, indem man ihnen einen Marshmallow anbot. Den konnten sie entweder sofort essen, oder sie bekamen einen weiteren Marshmallow, wenn es ihnen gelang, den ersten 20 Minuten lang nicht zu essen. Welche diagnostische Kraft dieser Test besaß, wurde 12-14 Jahre später deutlich, als man dieselben Kinder — nun Jugendliche — untersuchte: Zwischen denen, die sich das Bonbon geschnappt hatten und den anderen, die die Belohnung aufgeschoben hatten, zeigten sich große Unterschiede: Diejenigen, die mit vier Jahren der Versuchung widerstanden hatten, zeigten jetzt als Jugendliche größere soziale Kompetenz. Sie waren selbstbewusst, durchsetzungsfähig und besser in der Lage, mit Drucksituationen, Stress und Frustration umzugehen. Das Verhalten der Kinder, die damals nicht warten konnten, war eher entgegengesetzt: Sie waren druckempfindlich, weniger kontaktfreudig und mit ihrem eigenen Selbstbild unzufrieden. Die geduldigen Kinder hatten außerdem auf der Highschool die besseren Noten und schnitten beim Scholastic Assessment Test (SAT) für die Aufnahme bei amerikanisichen Universitäten signifikant besser ab.
    Wer also nie gelernt hat, dass man sein Lebensglück steigern kann, wenn man die sofortige Zufriedenheit bisweilen einem späteren Glück opfert, der wird nie sein Potenzial ausschöpfen und wahrscheinlich auch unzufriedener sein als jemand, der Belohnungen aufschieben kann.
    Selbstdisziplin kann sich nur dann gut entwickeln, wenn die Umwelt ein entsprechendes Verhalten besonders belohnt. Die Umgebung einer Inflation lehrt uns jedoch das Gegenteil: Das Hier und Jetzt wird wichtig. »Konsumiere jetzt, zahle später«, lautet das Motto, denn sich zu verschulden, ist sinnvoller, als zu sparen. Die Amerikaner sind der Welt auch hier wieder ein ganzes Stück voraus: Sie haben eine negative Sparquote und eine private Verschuldung von 12 Billionen Dollar, also 60.000 pro Amerikaner.
    Wo sehen sich Voluntaristen im Parteienspektrum?
    Das klassische Parteienspektrum von links nach rechts versperrt leider den Blick aufs Wesentliche. Da an den Rändern Parteien liegen, mit denen man sich als gebildeter Mensch unmöglich identifizieren kann, kommt man schnell zu dem scheinbar trivialen Schluss, dass die Wahrheit in der Mitte liegt. Man kann sich dann streiten — und die Parteien tun das ja ständig —, ob nun die SPD oder die CDU die Partei der Mitte ist. Aber wo sollte man auf dieser Achse eine voluntaristische Gesinnung platzieren?

    klassisches politisches Spektrum

    Ein klareres Bild entsteht, wenn man aus dem eindimensionalen Modell ein zweidimensionales macht. Auf der einen Achse trägt man die innere Freiheit ab und auf der anderen die äußere, entsteht dieses Bild:


    Was zur inneren und äußeren Freiheit gehört, zeigt die folgende Stichpunktliste, angelehnt an einen Test, den man in André Lichtschlags früherem Freiheitsforum machen konnte.
    Innere Freiheit
    > Freie Schulwahl, Homeschooling, Unschooling und eigenfinanzierte Privatschulen. Keine Schulpflicht oder Staatsschulen.
    > Freie Presse, freies Radio und freies Fernsehen. Keine Zensur, Landesmedienanstalten oder GEZ-Gebühren.
    > Unbehinderter Drogengebrauch. Keine Prohibition.
    > Staatlich unreglementiertes Glücksspiel. Keine Verbote und staatliche Lizenzen.
    > Freie Religionswahl. Keine Amtskirchenprivilegien und staatliche Kirchensteuererhebung.
    > Freie Meinungsäußerung. Keine Gesinnungsschnüffelei oder Gesinnungsstrafrecht.
    > Unverletzlichkeit von Privatheit und Wohnung. Kein Verfassungsschutz und keine Staatspolizei.
    > Freiheit aller gewaltfreien Sexualbeziehungen. Keine Verbote von Prostitution oder Pornographie.
      

    Äußere Freiheit
    > Freie Einwanderung. Keine Abschiebung, staatliche Hilfen oder Arbeitsverbote für Einwanderer.
    > Freiwilligkeit des Militärdienstes. Keine Wehrpflicht.
    > Freie Unternehmen. Keine staatliche Subventionen.
    > Freihandel. Keine Einfuhrzölle.
    > Freie Löhne. Keine Mindestlöhne und oder Gewerkschaften mit staatlichen Privilegien
    > Freier Handel. Keine Steuern oder Abgaben.
    > Freiwillige Hilfe im Ausland. Keine staatlichen Entwicklungshilfeprogramme.
    > Freiwillige Hilfe im Inland. Keine staatlichen Sozialhilfeprogramme.
    > Freies Geld. Kein staatliches Währungsmonopol mit Annahmezwang (gesetzliche Zahlungsmittel).
    > Ungehinderte Nutzung des Grundeigentums. Keine staatlichen Bauauflagen.
    > Recht auf Diskriminierung. Keine Anti-Diskriminierungsgesetze oder gesetzliche Frauenquoten

    Ganz scharf lassen sich innere und äußere Freiheit nicht trennen, wie man am Beispiel der Anti-Diskriminierungsgesetze am besten erkennen kann. Dieses Thema betrifft innere wie äußere Freiheit. Man kann sich deshalb auch keine Haltung vorstellen, in der jemand für absolute innere Freiheit plädiert und für eine kompromisslose Einschränkung der äußeren — oder umgekehrt. Die Flächen links oben und rechts unten bleiben deshalb unausgefüllt.


    Wenn man die Darstellung der verschiedenen politischen Haltungen daher auf einer Achse abtragen will, muss man das zweidimensionale Diagramm lediglich um 45 Grad drehen …


    … und die beiden Achsen durch eine ersetzen. Jetzt ergibt sich wieder eine eindimensionale Darstellung, die jedoch eine erheblich bessere Orientierung liefert als das klassische Parteienspektrum von links nach rechts.


    In dieser Darstellung liegen Kommunismus und Faschismus nebeneinander, und das kommt der Wirklichkeit viel näher, als wenn man sie an entgegengesetzten Enden platziert. Nicht ohne Grund nannte sich die deutsche Version des Faschismus »National-Sozialismus«. Viel besser treffen den Sachverhalt die Bezeichnungen »roter Sozialismus« und »brauner Sozialismus«, denn sie verdeutlichen die Verwandtschaft dieser beiden Formen der Diktatur. Beim roten Sozialismus werden die Produktionsmittel verstaatlicht; beim brauen Sozialismus bleiben die Produktionsmittel weitgehend in privater Hand, wobei der Staat hier die Kontrolle über marktregulierende Gesetze sowie hohe und progressive Steuern ausübt.
    Faschismus hat zunächst einmal nichts mit Rassismus zu tun. Die nationale Komponente zeigte sich fast ausschließlich bei Hitler (vorwiegend in der Form des Antisemitismus) und war kein Bestandteil des italienischen Faschismus unter Mussolini oder des spanischen unter Franco.
    Tatsächlich haben wir es beim Faschismus oder braunen Sozialismus nur mit einer versteckteren Form des Besitzes an den Produktionsmitteln zu tun. Die Regierung erlaubt zwar den Privatbesitz und spart sich damit das Risiko der eigenen Unternehmertätigkeit, behält jedoch die Kontrolle und nimmt sich den Großteil der Gewinne — bei Verlusten beteiligt sich die Regierung selbstverständlich nicht.
    Wie in allen modernen demokratischen Staaten herrscht in Deutschland eine Gesellschaftsform, die aus einer Mischung von dreierlei Zutaten besteht: Kommunismus, Faschismus und Marktwirtschaft.
    1. Kommunismus:
    Der Staat besitzt das Eigentum an zahlreichen Produktionsmitteln. So befinden sich das Gesundheits-, Bildungs-, Renten-, Rechts-, Sicherheits-, Verteidigungs- und Verkehrssystem fast vollständig in staatlicher Hand.
    2. Faschismus:
    Die meisten demokratischen Staaten regulieren die Wirtschaft in einem Ausmaß, dass die Beschreibungen dieser Regulierungen in Form von Gesetzen und Verordnungen ganze Bibliotheken füllen. Außerdem hat der Staat das Monopol über den wichtigsten Bestandteil einer freien Marktwirtschaft: die Währung.
    3. Marktwirtschaft:
    Auch in den extrem regulierten Demokratien gibt es Inseln, in denen der Mensch kreativ und produktiv werden kann, wobei der Schwarzmarkt sicher die größte Insel ist.
    Was uns von Diktaturen unterscheidet ist neben dem Wahlrecht und gewissen Grundrechten (wobei das Eigentumsrecht stark eingeschränkt ist) vor allem das Mischungsverhältnis. Weil sich eine kommunistisch-faschistische Marktwirtschaft oder eine rot-braun-sozialistische Marktwirtschaft natürlich nicht gut bewerben lässt, nennt man das Ganze lieber soziale Marktwirtschaft. Wolfgang Münchau, Gründer der Financial Times Deutschland, schreibt zu diesem Begriff in seinem Buch »Das Ende der sozialen Marktwirtschaft«:
    »Hierbei handelt es sich um einen missverständlichen Begriff. Denn die soziale Marktwirtschaft ist weder sozial, noch ist sie eine Marktwirtschaft. Die soziale Marktwirtschaft ist ein deutscher Sonderweg unter den internationalen Wirtschaftssystemen. Charakteristisch für die soziale Marktwirtschaft sind auf keinen Fall die hohen sozialen Transferleistungen oder großzügige soziale Sicherungssysteme. Was die soziale Marktwirtschaft in ihrem Wesen ausmacht, ist eine vorkapitalistische Vetternwirtschaft, ein dicht vernetzter Klüngel von Banken, Unternehmen und Politik […]«
    Bekannt wurde der Begriff unter Wirtschaftsminister Erhard. In einer Biografie über Erhard schrieb der amerikanische Wirtschaftshistoriker Alfred Mierzejewski:
    »Der Markt sei sozial, weil er die Bedürfnisse der Menschen befriedige und ihren Lebensstandard anhebe. Der Wirtschafts-Nobelpreisträger Friedrich von Hayek fragte Erhard einmal nach diesem Konzept. Hayek berichtet, Erhard habe geantwortet: ›Ich hoffe, Sie missverstehen mich nicht, wenn ich von der sozialen Marktwirtschaft spreche. Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er sozial gemacht werden muss.‹ Erhard konkretisierte den Gedanken, indem er betonte, ›je freier die Wirtschaft desto sozialer ist sie auch‹.«

    Handelt es sich beim Voluntarismus nicht um eine Utopie? Wie sollte man so eine Gesellschaftsform jemals durchsetzen können?
    Zunächst müssen wir uns darauf einigen, was Utopie bedeutet. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und lässt sich übersetzen mit: »der Nicht-Ort« (aus οὐ- u- = »nicht« und tópos = »Ort«). Wenn man also sagen will, dass Voluntarismus derzeit nicht existiert, dann ist das natürlich richtig. Oft schwingt in dem Begriff Utopie aber auch mit, dass diese Ideen unrealistisch sind. Man muss sich jedoch fragen, was wirklich unrealistischer ist: eine Gesellschaft, die ohne institutionalisierten und legitimierten Zwang auskommt, oder so etwas wie ein gerechter Staat oder eine freiheitliche Demokratie — beides vielleicht selbstwidersprüchliche Begriffspaare (Oxymora)?
    Sicher mag die Wahrscheinlichkeit gering sein, dass wir uns in Kürze in eine voluntaristische Gesellschaft verwandeln, aber wenn diese Art des Zusammenlebens wünschenswert ist, weil moralisch und effizient, dann darf die Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung keine Rolle spielen.
    Wenn eine Gesellschaftsordnung ohne legalen Zwang und Gewalt noch nie getestet wurde, dann sollte das jetzige System, dass auf Zwang und Gewalt gründet, in der Rechtfertigungspflicht sein und nicht umgekehrt. So verlockend es auch ist, sich eine Welt auszumalen, in der man sich keine Sorgen um sein Wohlergehen machen muss, weil sich die anderen darum kümmern werden: Diese Art der Utopie ist ein Rezept für weltweites Unglück. In der extremen Form des Kommunismus hat es ein knappes Jahrhundert gedauert, bis es zum totalen Zusammenbruch kam. Die gemäßigte Variante des Sozialismus ist durch die Vermischung mit marktwirtschaftlichen Elementen robuster, aber auch sie hat den Zusammenbruch durch ständig steigende Staatsschulden in ihren Genen. In der Geschichte dieses Planeten ist der Staat in allen Ländern praktisch immer gewachsen und nie geschrumpft. Wir haben also gar nicht die Wahl zwischen dem Status quo und einem voluntaristischen Experiment. Wir haben nur die Wahl zwischen Tyrannei mit wirtschaftlichem Elend und dem mutigen Schritt in die Freiheit.
    Wie aber ändert man eine Gesellschaft mit einer über Jahrhunderte eingefahrenen Tradition der Herrschaft durch Regierungen — ob nun demokratisch gewählt oder nicht?
    Wer sich vornimmt, »die Gesellschaft« zu ändern, ist zum Scheitern verurteilt und damit zur Verbitterung und zur Frustration. Die beste Antwort zu dieser Frage stammt deshalb von Albert Jay Nock: »Wenn wir der Gesellschaft verbessern wollen, können wir nur eines tun: sie um eine Einheit verbessern.« (»The only thing we can do to improve society, is to present society with one improved unit.«) Wer ein gewaltfreies Leben ohne initiierende Gewalt führt, wird das Interesse seiner Mitmenschen wecken. Er muss niemanden missionieren. Natürlich würde er sich freuen, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sich änderten, sodass niemand mehr Opfer von institutionalisierter Gewalt würde, aber sein Lebensglück hängt nicht davon ab, ganz nach dem bekannten Gebet: »Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
    Eine freie Gesellschaft ist aber nicht so undenkbar, wie es scheint. Wenn man über »die Gesellschaft« redet, darf man nicht vergessen, dass das nichts anderes ist als eine Gruppe von Individuen, die zur gleichen Zeit in einem bestimmten Gebiet leben. Werte und Handlungen jedes dieser Individuen hängen davon ab, welche Überzeugungen dieser Mensch in sich trägt: Was hält er für richtig und falsch? Was glaubt er hilft ihm und was den anderen? Es sind lediglich die Überzeugungen der Menschen, die darüber entscheiden, ob wir alle in Freiheit leben oder uns gegenseitig entmündigen und versklaven, ob wir anderen vertrauen oder sie bespitzeln und bewachen, ob wir auf Freiwilligkeit setzen oder auf Zwang und Drohungen, ob wir gewaltfrei miteinander kommunizieren oder die anderen mit Beschämung und Beschuldigungen zu steuern versuchen.
    Die Kraft der Überzeugungen wirkt also in beide Richtungen: Wenn man einen Menschen dazu bekommen kann, eine bestimmte Überzeugung oder Handlung für moralisch gerechtfertigt zu halten, sind die Grausamkeiten, zu denen er sich hinreißen lässt, fast unbegrenzt. Es ist noch nicht so lange her, dass wir in Europa Hexen verbrannt haben und davon überzeugt waren, damit etwas Nötiges und Gutes zu tun. Damals war eine Demokratie, wie wir sie jetzt haben, so undenkbar wie heute eine Gesellschaft ohne Staat.
    Natürlich kann man heute nicht mehr jedem Menschen jede Handlung als moralisch verkaufen. Ein zivilisierter westlicher Erwachsener wird sich inzwischen nicht mehr überzeugen lassen, dass Kannibalismus tugendhaft ist. Gleichwohl kann man mit sozialem Druck, Drohungen und permanenter Indoktrinierung von früher Kindheit an »viel erreichen«: Man kann noch immer fast jeden glauben machen, dass Angriffskriege bisweilen nötig sind, dass künstliche Linien auf einer Karte Menschen besser und schlechter machen, dass Leute in Uniformen anderen ungestraft Gewalt antun dürfen, auch wenn die Opfer dieser Uniformträger niemandem Schaden zugefügt haben, sondern zum Beispiel nur die falschen Pflanzen rauchen. Das Erschreckendste aber ist: Praktisch jeder ist noch heute davon überzeugt, dass manche Menschen nach dem Gewinn bei einem Beliebtheits-Wettbewerb auf einmal mehr Rechte haben als andere. Diese Gewinner von Belibtheits-Wettbewerben dürfen nun fast beliebige Vorschriften darüber erlassen, wie wir zu leben haben und sie nehmen sich das Recht, uns zu Sklaven zu machen, indem sie uns zunächst zehn Jahre in Indoktrinierungsanstalten schicken und darüber bestimmen, wann und vom wem wir was zu lernen haben. Danach nehmen sie ihren Sklaven allmonatlich einen Großteil der Früchte ihrer Arbeit ab. Wer sich dem widersetzt, kommt ins Gefängnis. Und wer sich sogar dagegen wehrt, wird notfalls auch erschossen. All das hält fast jeder für völlig normal. Kurz: Man kann Menschen immer noch problemlos davon überzeugen, dass Schlechtes nötig ist — und deshalb moralisch gerechtfertigt —, um einem guten, größeren Ganzen zu dienen.
    Umgekehrt wirkt die Kraft der Überzeugungen aber auch im Guten: Was sollten die Politiker und Bürokraten tun, wenn Millionen von Bürgern sich der Schuld der stillen Zustimmung entzögen? Was würde passieren, wenn die Beteiligung bei den Beliebtheits-Wettbewerben auf einen lächerlichen Wert sänke? Was geschähe, wenn Arbeit im Dienst des Staates so verpönt wäre wie heute das Glücksspiel, Prostitution oder Steuerhinterziehung? Wie schnell bräche alles zusammen, wenn die Menschen den Betrug hinter dem Papiergeldsystem entdeckten und alle in Gold und Silber flüchteten?
    Dabei müsste nicht gleich eine Mehrheit diese Haltung verinnerlicht haben; wichtig sind lediglich die Überzeugungen der Meinungsmacher: Journalisten, Intellektuelle, erfolgreiche Künstler, Prominente, Professoren, Superreiche, ehemalige Politiker und so weiter. Sie sind entscheidend, weil die Masse der anderen Menschen sich keine eigenen Gedanken über Gesellschaftssysteme macht. Sie richten sich nach denen, die sie für gebildet halten. Wenn die Mehrheit der Meinungsmacher das Potenzial der Freiheit entdeckt, könnte sich alles in einer Geschwindigkeit ändern, die sich heute noch keiner vorstellen kann. Wer hätte ein Jahr vor dem Mauerfall ahnen können, dass sich die DDR in kürzester Zeit in Luft auflösen wird?
    Aber selbst wenn es erst nach der zweiten, dritten oder vierten Weltwirtschaftskrise zu einem Umdenken der Meinungsmacher kommen wird, es ändert nichts daran, dass jeder seine Überzeugung und damit sein Leben jetzt in dieser Sekunde ändern und auf initiierende Gewalt verzichten kann.
    Gibt es geschichtliche Beispiele voluntaristischer Gesellschaften?
    Staatslose Gesellschaften lagen alle in der vorindustriellen Zeit und lassen sich deshalb nicht mit heute vergleichen. Aber selbst, wenn es nie eine voluntaristische Gesellschaft gegeben hätte, kann das kein Grund sein, die Gedanken darüber zu verwerfen. Wenn man so argumentiert, hätte die Sklaverei nie abschafft werden dürfen, denn vor der ersten Abschaffung hätte man auch auf keine sklavenlose Gesellschaft zeigen können.
    Wenn der Leser sich aber noch einmal das Wesen des Voluntarismus in Erinnerung ruft, nämlich der Verzicht auf initiierende Gewalt und Zwang, fällt ihm sofort eine derzeitige voluntaristische Gesellschaft ein: seine eigene. Die wenigsten Leser werden ihre Vermieter mit Waffengewalt gezwungen haben, die Miete zu senken. Kaum ein Leser wird seinen Freunden mit Gewalt oder Strafen drohen, wenn sie nicht mit ihm ins Kino gehen und nur wenige werden ihren Ehepartner in den Keller sperren, wenn der ihnen Zärtlichkeiten versagt. Die private Welt der allermeisten Leser ist also das beste Beispiel für eine funktionierende voluntaristische Gesellschaft.
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Mein besonderer Dank gilt Oliver Heuler für dieses hervorragende FAQ zum Voluntarismus
Ursprünglich veröffentlicht auf www.voluntarist.de