Freitag, 17. August 2012

Was bedeutet Anarchie?

Über den Begriff der freiheitlichen Quintessenz von Anarchismus /

Libertarismus / Voluntarismus / Anarchokapitalismus



"Warum mir aber in neuester Welt Anarchie gar so gut gefällt?
Ein jeder lebt nach seinem Sinn, das ist nun also auch mein Gewinn!
Ich laß' einem jeden sein Bestreben, um auch nach meinem Sinn zu leben."
- Johann Wolfgang v. Goethe -

Das Wort Anarchie ist so alt wie die abendländische Zivilisation. Seit es Herrschaft gibt, gibt es Ideen herrschaftfreien Lebens und seit den alten Griechen ist uns das Wort an archia überliefert. Es bedeutet "keine Herrschaft" [...]. Ein provokantes Wort, das in den Köpfen der Menschen augenblicklich schlimme Visionen erzeugt: Chaos, Unordnung, Verwilderung, Zerstörung. So ist die Bedeutung des Wortes heute weitgehend auf die Ängste reduziert, die den Normalbürger bei dieser Vorstellung befallen. Sein eigentlicher Wortsinn ging dabei komplett verloren.

Was blieb, waren griffige 'Übersetzungen' wie "Gesetzlosigkeit", "Zügellosigkeit", "Chaos". Das ist etwa genauso korrekt, wie wenn man die Begriffe "Zahnarzt" mit "Folter", "Liebe" mit "Sünde" oder "Ökologie" mit "Rückschrittlichkeit" übersetzen würde.
In der Umgangssprache mag dies ja noch als spontaner Ausdruck eines Angstgefühls hingenommen werden. Es geht jedoch um mehr als nur um Unwissenheit oder Ungenauigkeit. Seit Jahrhunderten wird im offiziösen Sprachgebrauch dieser negative Begriff von Anarchie verwendet; seit dem 19. Jahrhundert in der offensichtlichen Absicht, den Anarchismus als Philosophie oder politische Bewegung zu diskreditieren. Aus diesem Grunde haben ganze Generationen von Politikern und Literaten, Kommunisten und Adligen, Pfarrern und Hausdamen diesen Begriff von Anarchie verbreitet. Für sie verbindet sich das Wort mit einem kalten Schauer und dem Gedanken an Weltuntergang, und diese apokalyptische Vision gaben sie millionenfach weiter.

Selbst in seriösen Nachschlagewerken wie dem Duden wird Anarchie vorzugsweise und durchaus falsch mit "Gesetzeslosigkeit" oder "Chaos im politischen Sinn" übersetzt. In der Duden-Redaktion aber sitzen gebildete Leute, die auch Liebe nicht mit Sünde übersetzen. Es handelt sich also nicht um irgendwelche unterschwelligen Ängste, sondern darum, wie subtil Sprache zur Meinungsmache benutzt werden kann.
Die Formel Anarchie = Gesetzlosigkeit ist ja nicht bloß sprachlich falsch und inhaltlich schief, sie soll beim Leser etwas bewirken. Die Vorstellung nämlich, dass bei einer Verwirklichung anarchistischer Ideen die Gesellschaft zwangsweise ins Chaos stürzen müsste, und dass umgekehrt Herrschaft die einzig denkbare Form der Ordnung sei. Das aber ist Meinung, Spekulation, vielleicht Manipulation - mit einer korrekten Worterklärung hat es jedenfalls nichts zu tun.

"Aber wollen die Anarchisten [und Voluntaristen, Anarchokapitalisten, etc.] nicht den Staat abschaffen, sind sie nicht Gegner von Justiz, Polizei und Gesetzbuch, und ist es da nicht richtig, ihnen 'Gesetzlosigkeit' vorzuwerfen?" könnte man fragen. Ersteres stimmt, und der Vorwurf wäre berechtigt, wenn der Anarchismus an die Stelle dieser Institutionen keine anderen Strukturen zu setzen wüsste. Die Ablehnung unseres heutigen Herrschafts-, Justiz- und Strafsystems heißt aber nicht, dass es keine Regeln, Vereinbarungen oder ethische Grenzen im gesellschaftlichen Zusammenleben mehr gäbe. Es sind schließlich auch andere Formen denkbar. Dass die Inhaber der Macht diese aus wohlverstandenem Eigeninteresse bekämpfen, liegt auf der Hand. Dass die Phantasie der meisten Menschen nicht ausreicht, über das heute Bestehende hinauszudenken, ist wiederum nicht Schuld der Anarchisten. Andere Denker haben da mehr visionäres Vermögen bewiesen.

Immanuel Kant definiert Anarchie kurz und bündig als "Gesetz und Freiheit ohne Gewalt". Für ihn ist der Begriff Gesetz eben nicht das Bürgerliche Gesetzbuch, sondern die Gesamtheit sozialer Regeln.
Ähnliches musste Elisée Reclus im Sinn gehabt haben, als er postulierte "Anarchie ist die höchste Form der Ordnung": Wenn Regeln unter Menschen freiwillig und ohne Gewaltanwendung eingehalten werden, so sei dies eine höhere Stufe gesellschaftlicher Entwicklung als die autoritäre, in der soziales Verhalten durch den Zwang des Staates, die Drohungen der Justiz und die Gewalt der Polizei ständig erzwungen werden müsste.

Pierre-Joseph Proudhon, einer der Väter des modernen Anarchismus, griff das Wort Anarchie in seiner ursprünglichen Bedeutung wieder auf und rührte es um 1840 mittels eines witzigen Dialogs mit einem Spießbürger in die Politik ein:

"Sind sie Republikaner?"
"Republikaner, ja: aber dieses Wort ist mir zu ungenau. Res publica, das sind die öffentlichen Belange ... die Könige sind auch Republikaner."
"Nanu, Sie sind Demokrat?"
"Nein."
"Was, Sie wären Monarchist?"
"Nein."
"Konstitutionalist?"
"Gott behüte!"
"Dann sind Sie Aristokrat?"
"Ganz und gar nicht."
"Sie wollen eine gemischte Regierung?"
"Viel weniger."
"Was sind Sie also?"
"Ich bin Anarchist."

In den Augen Proudhons waren Staat und Regierung die eigentlichen Unruhestifter, ständige Produzenten von Chaos, Ungerechtigkeit und Armut. Folgerichtig konnte nur eine von der Regierungsgewalt befreite Gesellschaft in der Lage sein, eine "natürliche Ordnung der menschlichen Beziehungen", die soziale Harmonie, wieder herzustellen. Hierfür suchte er nach einem passenden Bergriff und verfiel auf den alten griechischen Terminus an archia, dem er seinen genauen etymologischen Sinn wiedergab.
Die Doppeldeutigkeit des Wortes Anarchie wurde dadurch jedoch nicht aus der Welt geschafft. Bereits im alten Griechenland wurde der Begriff ambivalent benutzt. Seine negative Bedeutung setzte sich vollends in der Philosophensprache des katholischen Mittelalters durch. Spätestens seit der Aufklärung aber wird der Begriff differenzierter verwendet. Wir werden diesen Wertewandel gelegentlich wieder aufgreifen. Allerdings ist es der jeweils herrschenden Ideologie stets gelungen, den Eingang solcher Unterscheidungen in die Umgangssprache zu verhindern.

Heute ist der Begriff Anarchie daher durchweg negativ besetzt. Entsprechend heftig war in Anarchistenkreisen die Diskussion um neue Namen, mit denen man sich dieses Makels entledigen wollte. Einige nannten sich später "Föderalisten" (Anhänger eines nicht-zentralen Gemeinwesens auf der Basis gleichberechtigter Kommunen), andere "Mutualisten" (genossenschaftliche Ordnung auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe und Solidarität), "Kollektivisten" (Ordnung auf der Grundlage der Gemeinschaftlichkeit) oder "Syndikalisten" (libertäre Gesellschaft auf gewerkschaftlicher Basis). Alle diese Begriffe geben jedoch nur jeweils einen Teilaspekt anarchistischer Essentials wieder und jeder von ihnen musste im Laufe der Zeit ähnliche Verdrehungen seiner Bedeutung erfahren, wie das Wort Anarchie selbst. Auch das griechische Kunstwort Akratie, dessen Bedeutung mit der von Anarchie fast identisch ist, konnte sich nie auf Dauer durchsetzen. Die meisten Anarchisten sind schließlich zu der Meinung gelangt, sie könnten sich nennen wie sie wollten, verleumdet würden sie immer - weshalb sie ebensogut bei dem problematischen Wort Anarchie bleiben und ihm einen positiven Inhalt geben könnten. Einzig der um 1860 in Frankreich entstandene Ausdruck libertär ("freiheitlich", nicht zu verwechseln mit liberal!) konnte sich weltweit durchsetzen und gilt heute als ein etwas weiter gefasstes, im Grunde aber gleichwertiges Synonym für anarchistisch.






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aus "Anarchie! Idee - Geschichte - Perspektiven", Kapitel 2: "Der Begriff Anarchie", von Horst Stowasser