Dienstag, 19. Juni 2012

Postdemokratie

Die Tendenz zur (verschleierten) Autokratie

Die Diskussionen um eine schwelende Krise der Demokratie westlicher Prägung wurden in den vergangenen Jahren vom britischen Politikwissenschaftler Colin Crouch mit dem Begriff der "Postdemokratie" popularisiert. Kritisiert wird der Legitimitätsverlust der politischen Akteure und Institutionen, da sie zunehmend unter dem Einfluss privater und partikularer Interessengruppen agieren, statt als gewählte Repräsentanten im Sinne des Gemeinwohls zu handeln.

Crouch definiert eine idealtypische Postdemokratie als:
"ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden [...], in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben."
[aus Postdemokratie, Suhrkamp Verlag, 2008, S. 10]


Gastbeitrag von Jan Korcimsky

[Post-]Demokratien eignen sich hervorragend, um über konditionierte Assoziationen Völker dorthin zu leiten, wo man sie haben möchte, ohne als Quelle der Meinungsbildung – ohne als diesbezüglich Schuldiger oder als offiziell Verantwortlicher in Erscheinung zu treten.
Vorteile der Demokratie liegen darin begründet, dass für das Volk ungünstige Entwicklungen von ihm selbst als (mit-)bestimmt geglaubt werden und dass die Durchsetzung von eigenen Interessen über mediale Propagierung von Ursachen und Wirkungen einfach mittels Einfluss oder finanziellen Möglichkeiten und insofern über die Etablierung von Meinung entwickelt werden kann.
Der große Vorteil ist, dass Entscheidungen zu eigenen Gunsten getroffen werden können, welche vom Volk als gut und richtig, selbst entschieden und sogar zu eigenem Vorteil (miss-) verstanden werden und insofern, dass Verantwortlichkeit von (in-) offizieller Seite nicht voll übernommen werden muss und auf das Volk geschoben, bzw. auf dieses aufgeteilt werden kann.
Eine geniale Taktik besteht auch darin, das Volk nur über unwesentliche Alternativen abstimmen und eben an gewählte Selbstbestimmung glauben zu lassen. Später werden dann wesentliche Entscheidungen so oder so umgesetzt.
Zu viele Köche verderben den Brei. Die Menge, welche überwiegend über zu geringen Überblick verfügt, kann hinsichtlich zukünftiger Entwicklungen und Notwendigkeiten kaum günstige Entscheidungen (dazu fehlen Kompetenz und Insiderwissen) absehen. Um aber die Verwirrung zu verstärken, kann immer wieder wiederholt werden: Nur wer wählen geht, kann mitbestimmen!
Duch die Propagierung wissenschaftlicher Erkenntnisse, kann der Eindruck erweckt werden, dass das Volk, so es sich Erkenntnissen oder Meinungen von (scheinbar unabhängigen) Wissenschaftern oder (scheinbar neutralen) Institutionen anschließt, auf jeden Fall richtig liegt.
Erwartete Widerstände von wesentlichen Personengruppen können neutralisiert werden, dadurch, dass jene Personengruppen bereits im Vorfeld mit negativen Eigenschaften unterlegt, später also generell „negativ“ assoziiert werden.
Da die Mehrzahl des Volkes mit den Aufgaben und Ablenkungen des Alltags überaus beschäftigt ist, hat es kaum Möglichkeit zu komplexen Differenzierungen, womit es zur Erreichung eigener Ziele sinnvoll erscheint nur einfache Unterscheidungen zu kommunizieren, bzw. zu etablieren - wie: „Gut“ und „Schlecht“, „Opfer und Täter“, „Gesund und Ungesund“, „Freund“ und „Feind“, „Richtig“ und „Falsch“, „Korrekt und Inkorrekt“ oder eben „Demokratie“ und „Diktatur“, sowie „Gleichstellung“ und „Machtapparat“ - „Gut“ und „Böse“.
Auf bereits konditionierten Assoziationen kann später aufgebaut werden. Rechtliche Änderungen des jeweiligen Systems sind gegenüber der Mehrheit über existenzielle Bedrohungen jederzeit rechtfertigbar.
Um für das Volk offensichtlich ungünstige Verhältnisse zu etablieren, muss nur im Vorfeld eine relevante Ursache etabliert werden, welche einer ungünstigen Entscheidung insofern keine andere Wahl lässt, als im Zusammenhang zu der selbst propagierten Ursache diese nun scheinbar unumgängliche Entscheidung das geringere Übel darstellt.
Eine große Wirtschaftskrise eignet sich hierfür ausgezeichnet. Selbstverständlich müssen diesbezüglich wiederum (zuvor) glaubwürdige Ursachen propagiert werden.

Beispielsweise, wenn nationale Parlamente zum Beitritt zur ESM-Mitgliedschaft erst (am Volk vorbei) noch abzustimmen haben, die Errichtung des dauerhaften Stabilitätsmechanismus zur Europäischen Schuldenunion jedenfalls durchzusetzen geplant wird, womit nationale [Finanz-] Souveränität tatsächlich aufgehoben wird, denn der Gouverneursrat des ESM kann jederzeit die Änderung des [Grund-] Kapitals beschließen (Artikel 10: Änderung des Grundkapitals) und weiters bei Artikel 9 (Kapitalabrufe) heißt es: „Die ESM-Mitglieder sagen hiermit unwiderruflich und bedingungslos zu, bei Anforderung jeglichem gemäß vorliegendem Absatz durch den Geschäftsführenden Direktor an sie gerichteten Kapitalabruf binnen 7 (sieben) Tagen nach Erhalt dieser Anforderung nachzukommen.“, kann im Vorfeld zur allgemeinen Akzeptanz verholfen werden: Ein Vorhaben wird als bereits beschlossen dargestelltNach dem Krisengipfel vom 9. Dezember 2011 wurde der ESM auf Juli 2012 vorgezogen - als ob es eine Tatsache sei; womit diese Änderung als fixiert angenommen und zweifelsfrei akzeptiert werden wird.

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Ursprünglich veröffentlicht auf open-mind.at